Der unheimliche Nachbar

Auch Sigrid Klintworth hat eine Kindergeschichte für unsere Osteraktion geschrieben:

Sarah lag auf der Wiese und kaute auf einem Grashalm. Sie summte dabei ein Lied vor sich hin und beobachtete eine kleine weiße Wolke, die über ihr am blauen Himmel vorbeizog, und seufzte zufrieden. Der letzte Schultag im Jahr war sehr schön und sie hatte ein tolles Zeugnis mit nach Hause gebracht. Nun hatten die großen Ferien angefangen, das Wetter war traumhaft schön und sie wartete auf ihre Cousine und ihren Cousin, die die Sommerferien bei ihnen verbringen würden.

Von einem tiefen „Wuff“ wurde sie aus ihren Träumen gerissen. Ihre Hündin hatte den Kopf gehoben und schien etwas zu sehen oder zu hören, was ihr bedrohlich schien. Sarah legte beruhigend die Hand auf Anny und fragte: „Was ist denn, mein Mädchen?“, während sie sich hinsetzte, um über das Gras hinweg spähen zu können. Sie konnte nichts entdecken und Anny legte den Kopf auch schon wieder ab. Es schien also keine Gefahr in Verzug zu sein und auch Sarah entspannte sich wieder.

„Hach, das werden tolle sechs Wochen, Anny“, sagte Sarah zu ihrer Hündin. Anny schaute sie fragend an und legte den Kopf schief. „Du bist die weltbeste Hündin, Anny!“, rief Sarah und umarmte die Hündin ganz fest. Das blonde schlanke Mädchen mit den grünen Augen und die schwarze Mischlingshündin, die immer zottelig aussah, waren dicke Freundinnen. Anny wich ihr nicht von der Seite und wartete mittags immer an der Straße auf den Schulbus, um Sarah nach Schulschluss abzuholen.

Sarah fragte sich, wo ihr Vater steckte. Bestimmt machte er wieder ein Nickerchen im Liegestuhl. Der Pferdestall war gemistet und die Pferde kauten gemütlich ihr Heu im schattigen Stall. Drei Pferde hatten sie, aber Sarah und ihr Vater hatten keinen Spaß mehr am Reiten. Vor zwei Jahren war ihre Mutter bei einem Ausritt gestürzt und später im Krankenhaus gestorben. Seit diesem Tag hatten Sarah und ihr Vater keinen Spaß mehr am Reiten. Sarah vermisste ihre Mutter, wollte sich heute aber keine traurigen Gedanken erlauben und dachte schnell an die bevorstehenden Sommerferien.

Sechs traumhafte Wochen, die sie zusammen mit ihrem Cousin Tim und ihrer Cousine Johanna verbringen würde und tun und lassen konnten, was sie wollten. Tim und Johanna lebten mit ihren Eltern in der Stadt und verbrachten die Ferien gerne bei Sarah und ihrem Vater, die abseits vom Großstadtgetümmel auf einem alten Bauernhof lebten, wo es immer etwas zu entdecken gab. Sarah schaute auf ihre Uhr. Es war halb zwei Uhr am Nachmittag. In nur drei Stunden würden sie Tim und Johanna vom Bahnhof abholen können. „Schade, dass sie nicht immer hier leben können“, seufzte Sarah. Sie verstand sich gut mit Tim und Johanna. Tim und Johanna waren Zwillinge und genau wie Sarah 10 Jahre alt.

Ein erneutes Wuff, dieses Mal begleitet von einem tiefen Knurren, schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sarah schaute in die Richtung, in die Anny blickte. Anny blickte zum Nachbarhaus. Dort lebte, sehr zurückgezogen, ein älterer Mann. Er sprach mit niemandem ein Wort. Manchmal, wenn ihr Vater und sie gerade draußen auf dem Hof beschäftigt waren, und der Nachbar aus dem Haus trat, zuckte er richtig zusammen, wenn er sie sah, und ging schnell wieder ins Haus zurück. Sarah hatte Angst vor dem Mann. Irgendetwas stimmte da nicht. Normalerweise war er aber nicht am hellen Tag zu sehen. Entweder man sah ihn ganz früh am Morgen oder am späten Abend. Sarah war sich sicher, dass er auch nachts um ihr Haus schlich. Anny knurrte auch immer, wenn sie ihn witterte. Nun war es mitten am Nachmittag. Eigentlich unwahrscheinlich, dass er um diese Zeit draußen herumschlich. Aber tatsächlich, hinter den Tannen konnte Sarah eine Bewegung ausmachen und es dauerte nicht lange, da kam der Nachbar hinter den Tannen hervor geschlichen, die an der Grundstücksgrenze standen. In gebückter Haltung schlich er am Rand in sein Haus.

„Den werden wir mit Tim und Johanna mal genauer unter die Lupe nehmen“, sagte Sarah zu Anny. Ihr Vater meinte zwar, er sei einfach nur ein komischer Kauz, aber Sarah glaubte es nicht. Sie hatte noch im Ohr wie Tante Edith, eine andere Nachbarin, über ihn sagte: „Lichtscheues Gesindel. Da kann man nie wissen!“ und das war auch Sarahs Meinung. Tante Edith lebte schon immer hier draußen im Moor. Sie hatte die leckersten Erdbeeren im weiten Umkreis und Sarah besuchte sie sehr gerne. Tante Edith hatte immer spannende Geschichten auf Lager und verwöhnte Sarah immer mit leckerem Obst oder frischem Kuchen.

Wie sollte sie sich die Zeit nur vertreiben, bis sie endlich zum Bahnhof fahren konnten? Sarah beschloss, die Eselchen zu besuchen, die in ihrem Sommerquartier hinterm Haus standen, das direkt an dem Pferdeauslauf grenzte. Das Eselpärchen kamen Sarah und Anny laut rufend entgegen. Es folgte eine liebevolle Begrüßung. Dann suchte sich Sarah eine Bürste und striegelte die beiden Esel gründlich. Die liebten das und auch Sarah genoss diese Mußestunden.

„Sarah!“, schallte es über den Hof. Ihr Vater hatte sein Nickerchen beendet. „Hier bin ich“, rief Sarah und schon sah sie ihren Vater, der, noch ganz verschlafen und mit verwuschelten Haaren, auf sie zukam. „Hast du alles für die Gäste vorbereitet?“ fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte. „Ja, natürlich. Die Betten sind fertig zum reinschlüpfen“, entgegnete sie mit einem breiten Grinsen. Ihr Vater wusste, wie sehr sie sich auf Tim und Johanna freute. Es war für ihn nicht immer einfach, seit er mit seiner Tochter alleine auf dem Hof lebte. Sarah half ihm, wo sie konnte und beide konnten sich ein Leben in einer Stadtwohnung nicht vorstellen. Gut, dass er als Schriftsteller von zu Hause aus arbeiten konnte und genügend Geld verdiente, um den Hof halten zu können. Er wusste, wie sehr Sarah an dem Land und den Tieren hing und ihm ging es nicht anders.

Sarah überlegte, ob sie ihrem Vater davon erzählen sollte, dass der Nachbar sich eben wieder so komisch verhalten hat, entschied sich dann aber dagegen. Der Vater mochte es nicht und vertrat die Meinung, nur weil ein Mensch sich anders benimmt als andere Menschen, ist er noch lange nicht verdächtig.

„Was hältst du davon, wenn wir uns fertigmachen und noch ein Eis essen gehen, bevor wir Tim und Johanna vom Bahnhof abholen?“, fragte Sarahs Vater. „Jippiiiie“, rief Sarah, „darf Anny mit?“ „Na, klar“, lachte der Vater.

Sarah brachte den Pferden und Eseln schnell noch ein paar Äpfel vorbei und erzählte ihnen ganz aufgeregt, dass Johanna und Tim gleich ankommen würden. Die Pferde grummelten scheinbar auch freudig.

Schon saßen sie im Auto und fuhren in die kleine Stadt. Anny lag hinten im Kofferraum und hielt ein Schläfchen. Während der ganzen Fahrt plapperte Sarah ganz aufgeregt. Ihr Vater schmunzelte. Er war stolz auf seine Tochter und schaute immer wieder liebevoll zu ihr auf dem Beifahrersitz hinüber.

„Wenn sie sich nur nicht so viele Gedanken über den neuen Nachbarn machen würde“, ging es ihm durch den Kopf. Der Mann war wirklich merkwürdig. Vor etwa sechs Monaten bezog er das leere Haus direkt neben ihnen und hatte seitdem kaum ein Wort mit einem Menschen gesprochen. Er besaß kein Auto und verbrachte den ganzen Tag im Haus hinter heruntergelassenen Jalousien. Der Rasen vor dem Haus wurde regelmäßig von ihm gemäht, aber scheinbar nur nachts oder am ganz frühen Morgen. Wenn er um sechs Uhr aufstand, um seine Tochter zu wecken und die Tiere zu versorgen, war der Nachbar schon wieder im Haus verschwunden. Aber Menschen sind eben unterschiedlich und er tat ja niemandem etwas zuleide.

Sie fanden einen Parkplatz direkt am Bahnhof und spazierten den kurzen Weg zur Eisdiele. Anny legte sich unter den Tisch und schlummerte gleich wieder ein, während Sarah und ihr Vater sich über das leckere Eis hermachten. Die Zeit verging wie im Fluge und sie machten sich auf Richtung Bahnhof, um Tim und Johanna abzuholen.

Der Zug kam pünktlich auf die Minute an und schon öffnete sich die erste Tür und Sarah entdeckte Tims Rotschopf mit dem fröhlichen Strubbelhaarschnitt. Sarah rannte gleich los gefolgt von Anny, die Tim und Johanna auch sehr gut leiden konnte. Tim sprang aus dem Zug so gut es ihm mit dem großen Rucksack möglich war und gleich dahinter erschien Johanna, Tims Zwillingsschwester, die mit wippendem rotem Pferdeschwanz auf Sarah zu gelaufen kam.

Die Kinder erzählten alle durcheinander und Anny sprang bellend und winselnd vor Freude zwischen ihnen hin und her. Sarahs Vater beobachte die Begrüßungsszene schmunzelnd, bevor er Tim und Johanna fest an sich drückte. Er konnte die beiden Kinder seiner Schwester und seines Schwagers auch sehr gut leiden und freute sich jedes Mal, wenn sie wieder zu Besuch kamen.

Gemeinsam gingen sie zum Auto, verstauten das Gepäck und schon ging die Fahrt los. Tim und Johanna konnten es kaum erwarten, endlich wieder auf den Hof zu kommen. Sie liebten die Tiere und genossen es, bis zum späten Abend draußen auf der Weide laufen zu können oder beim Lagerfeuer zu sitzen und sich Gruselgeschichten zu erzählen. Manchmal schliefen sie auch im Zelt und spielten Indianer. Es war einfach herrlich. Anny, die hinter der Rückbank saß, schleckte den Zwillingen abwechselnd über das Gesicht, was jedes Mal einen Jauchzer von Tim oder Johanna zur Folge hatte.

Endlich angekommen liefen sie erst mal zu allen Tieren, um sie zu begrüßen. Sarah und Anny begleiteten sie natürlich und erzählte alle Neuigkeiten. Der Vater brachte das Gepäck der Zwillinge in Sarahs Zimmer. Als er wieder aus dem Haus trat, saßen die Kinder bereits gemütlich in den Gartenstühlen. Er hörte gerade noch Sarahs Stimme: „ … erzähle ich euch später“, und sah, wie sie Tim und Johanna zuzwinkerte. „Na, habt ihr Geheimnisse“, fragte Sandras Vater und stellte das Tablett mit dem Eistee und den Gläsern auf den Gartentisch. Die Mädchen kicherten und Tim wendete sich ab. „Ich bereite jetzt das Abendbrot vor. Könnt ihr die Esel und Pferde auf die Weide lassen, damit sie ihren täglichen Weidegang genießen können?“ Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen und spurteten sofort los.

„Nun sag schon“, sagte Tim, „was ist das jetzt mit dem Nachbarn da vorne? Warum knurrt Anny ihn an? Sie mag doch sonst alle Menschen.“ Tim war Feuer und Flamme. Sarah hatte vorhin gerade angefangen zu erzählen, als ihr Vater schon wieder aufgetaucht war. Was Sarah angedeutet hatte, klang aber sehr spannend. Fast so, als ob ein Verbrecher vorne in das Haus, das so lange leer stand, eingezogen war. Die Gelegenheit war günstig und er wollte jetzt mehr erfahren, bevor sie sich zum Abendbrot essen wieder an den Tisch setzen würden.

„Also“, begann Sarah, „es war um Weihnachten, als vorne am Haus ein Möbelwagen hielt. Am nächsten Tag sind Paps und ich zum Haus gegangen, um die neuen Nachbarn willkommen zu heißen und um zu fragen, ob wir irgendwie behilflich sein können. Die Tür öffnete sich nur einen Spalt und wir wurden unfreundlich abgewiesen. So erging es aber nicht nur uns. Alle anderen Nachbarn erlebten das Gleiche.“

„Das ist ja merkwürdig“, murmelte Johanna mit weit aufgerissenen Augen, „der hat doch etwas zu verbergen.“

„Das ist nur der Anfang“, erzählte Sarah, „wenn wir abends noch mit Anny Gassi gehen, brennt dort im Haus kein Licht. Man kann aber deutlich sehen, dass dort jemand mit der Taschenlampe durch das Haus läuft. Es ist richtig gruselig. Niemand weiß, wie er heißt und man sieht ihn höchstens von Weitem. Sieht man ihn mal bei Tageslicht und geht auf ihn zu, läuft er schnell wieder in sein Haus hinein. Manchmal abends sieht man, dass die Bewegungsmelder um sein Haus herum leuchten. Gehen wir aber den Weg vor seinem Haus lang, sind sie ausgeschaltet. Anny knurrt, sobald sie ihn wittert, glaube ich. Sie schaut in die Richtung des Hauses und knurrt, auch wenn ich überhaupt nichts Ungewöhnliches dort entdecken kann und …“

„Oh, hör auf“, unterbrach Johanna Sarahs Redeschwall, „das ist ja unheimlich. Hast du gar keine Angst?“

„Pah“, sagte Sarah, „ich habe Anny immer an meiner Seite. Wovor soll ich Angst haben? Ich glaube aber auch, dass unser Nachbar etwas zu verbergen hat, und konnte es gar nicht abwarten, bis ihr endlich hier seid und mir bei der Aufklärung helfen könnt.“

Tim nickte begeistert. Johanna schluckte.

Schon rief Sarahs Vater sie zum Abendessen und die Kinder liefen schnell ins Haus, um sich die Hände zu waschen, bevor sie sich draußen an den gedeckten Tisch setzten. „Kein Wort, wenn Paps in der Nähe ist“, flüsterte Sarah ihren Freunden noch schnell zu.

Gemütlich verspeisten sie das leckere Brot. „Warum schmeckt das Brot hier viel besser als in der Stadt“, fragte Johanna. Darauf wusste niemand eine Antwort. „Ich schlage vor, ihr geht gleich ins Bett, Kinder! Ihr seid heute Morgen alle früh zur Schule gegangen und die Zugreise war ja gewiss auch anstrengend. Schlaft euch erst mal richtig aus und dann planen wir, die nächsten Tage morgen in Ruhe beim Frühstück.“ Die Kinder widersprachen nicht. Sie waren tatsächlich sehr müde. Auch Anny kam gerne mit nach oben ins Schlafzimmer und kuschelte sich an Sarah. Sarah liebte es, wenn sie mit ihrer Hündin im Arm einschlief. Johanna und Tim legten sich in ihre Betten. Normalerweise erzählten sich die Kinder abends im Bett immer noch sehr viel, aber heute waren sie alle zu müde und schliefen gleich ein.

Wenige Stunden später schreckten sie alle hoch, weil Anny laut kläffte. Anny saß vor der Balkontür in Sarahs Zimmer und knurrte bedrohlich nach draußen. Tim und Johanna wussten im ersten Moment gar nicht, was sie davon halten sollten. Da hörten sie auch schon Sarah flüstern: „Das ist ER wieder. ER schleicht wieder dort draußen herum. Warum macht er das? Was will er hier?“ Vorsichtig schlich Sarah sich neben Anny an die Balkontür und versuchte draußen irgendetwas zu erkennen, aber es war einfach zu dunkel.

Johanna war sicher, dass Tim und Sarah ihr Herz klopfen hören mussten, so laut schlug es in ihrer Brust. Wo war sie hingeraten? Hier war es doch sonst immer so friedlich und jetzt auf einmal schlich hier in der Nacht jemand ums Haus? Würden sie morgen früh alle ermordet von Tante Edith gefunden werden?

Tim, der seine Zwillingsschwester gut kannte, legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter: „Hier im Haus sind wir sicher. Außerdem passt Anny auf uns auf. Wir müssen aber herausfinden, was ER plant und wer ER überhaupt ist. Wir müssen Sarah helfen, verstehst du?“

Sarah blickte sich um und konnte Johanna schemenhaft erkennen. Sie lief schnell zu ihr hin und nahm sie in den Arm. Da knurrte Anny wieder. Die Kinder schauten gemeinsam aus der Balkontür hinaus. Vorne am Haus brannten die Bewegungsmelder. Kurz darauf hörte man das Schließen einer Tür. Anny grummelte noch einmal, drehte sich um und blickte schwanzwedelnd zu Sarah hinauf. Dann legte sie sich ins Bett.

Sarah musste lachen: „Anny meint, die Gefahr sei vorüber und wir können weiter schlafen. Wir beraten morgen, was wir machen können.“

Die Kinder legten sich wieder ins Bett und erwachten morgens vom lauten Rufen der Esel. Das war nichts Ungewöhnliches. Die Esel wussten genau, um wie viel Uhr sie ihr Frühstück zu erwarten hatten und scheuten sich nicht, ihre Menschen zu wecken.

Die Ereignisse der letzten Nacht kamen den Zwillingen unwirklich vor. Sarah erklärte ihnen, dass das mehrmals in der Woche so ging, aber ihr Vater das nicht wahr haben wollte und sie darum aktiv werden müssen.

Nach dem Frühstück machten die Kinder einen ausgedehnten Spaziergang mit Anny, während Sarahs Vater sich an den Computer setzte und arbeitete.

„Wir müssen herausfinden, was er genau macht, wenn er nachts herumschleicht“, schlug Tim vor.

„Jep“, bestätigte Sarah, „wann kommt er aus dem Haus und wo geht er dann hin und was macht er überhaupt mitten in der Nacht? Das sind Fragen, die ich mir schon oft gestellt habe. Kein normaler Mensch kommt nur nachts aus dem Haus und schleicht um das Haus seiner Nachbarn. Will er uns bestehlen oder sogar umbringen und traut sich nicht, weil Anny immer anschlägt?“

„Sag doch nicht so etwas Furchtbares“, bat Johanna. Ihr kam es immer noch wie ein böser Traum vor.

„Aber sie hat doch recht“, konterte Tim, „irgendetwas muss er doch planen, sonst würde er doch nachts nicht ums Haus schleichen. Er beobachtet alles genau, damit er im richtigen Moment zuschlagen kann.“

„Meinst du wirklich?“, fragte Johanna.

Sarah schaute von Tim zu Johanna: „Was ist jetzt? Helft ihr mir?“

„Selbstverständlich!“ Tim und Johannas Rotschöpfe nickten gleichzeitig.

Sarah musste darüber lachen. Sie war erleichtert: „Auf euch ist eben immer Verlass. Wir müssen einen Plan schmieden. Es könnte aber gefährlich werden, also müssen wir sehr vorsichtig sein!“

„Das Beste wird sein, wir verstecken uns, bevor es richtig dunkel wird, in den Büschen vor eurem Haus,“ schlug Tim vor, „von da aus können wir den Hauseingang vom Nachbarhaus gut beobachten und sehen, wann der Nachbar sich aus dem Haus schleicht.“

„Prima“, erwiderte Sarah, „wenn wir dunkle Kleidung tragen, sieht er uns auch nicht im Dunkeln. Eine Taschenlampe müssen wir auch noch mitnehmen. Anny kommt an die Leine, damit sie nicht hinter ihm herläuft und uns verrät.“

Den Rest des Tages verbrachten sie damit, Sarahs Vater auf dem Hof zu helfen. Die Pferde und Esel mussten gebürstet werden. Sie misteten die Ställe und füllten die Tränken.

Schon während des Abendessens gähnten die Kinder immer wieder. Sarahs Vater wunderte sich, hatte aber keine Einwände, als Sarah meinte: „Wir sind so müde und gehen gleich schlafen. Das ist doch o.k., Paps?“ „Ja, selbstverständlich. Die frische Luft macht müde. Träumt was Schönes. Ich gehe heute auch früh schlafen.“

Die Kinder warteten ganz gespannt darauf, dass sich die Tür des Schlafzimmers von Sarahs Vater hinter ihm schloss. Ganz leise schlichen Sarah, Tim, Johanna und Anny die Treppe herunter und gingen auf Zehenspitzen Richtung Ausgangstür.

Es dämmerte schon stark, war aber noch nicht richtig dunkel. Die Kinder hielten sich ganz dicht an der Hauswand, damit sie sich unbemerkt in die Büsche vor dem Haus schleichen konnten, um das Nachbarhaus zu beobachten. So saßen sie mucksmäuschenstill auf dem Boden und warteten ab.

Auf einmal spitzte Anny die Ohren und blickte zum Nachbarhaus. „Psssttt“, sagte Sarah, damit Anny wusste, dass sie ganz still sein musste. Anny verstand sofort und verriet die Kinder in ihrem Versteck nicht. Sie starrten auf die Hauseingangstür vom Nachbarn. Durch das Glas der Tür fiel ein Lichtschein. Johanna fasste vor Spannung mit der Hand an Sarahs Schulter.

Da öffnete sich die Tür und der Nachbar trat aus dem Haus. Der Mond schien hell am Himmel und die Kinder konnten deutlich sehen, wie er sich, vor seinem Haus stehend, in alle Richtungen umblickte.

„Er will sichergehen, dass niemand ihn beobachtet“, flüsterte Tim leise, „seine Taschenlampe hat er auch ausgemacht.“ Sarah nickte ihm bestätigend zu und wies gleichzeitig mit dem Finger in Richtung des Nachbarhauses.

Dort setzte sich der unheimliche Mann nämlich langsam in Bewegung. Er ging ganz leise und hielt sich dabei dicht an der Hauswand, in Richtung der hohen Tannen, die die beiden Grundstücke voneinander trennten. Dort konnten die Kinder ihn nicht mehr sehen, weil die Tannen zu dicht waren. Eine ganze Weile passierte gar nichts.

„Was macht der da“, fragte Johanna, die ihre Furcht langsam abgeschüttelt hatte.

„Wahrscheinlich beobachtet er unser Haus, um sicherzugehen, dass wir schon schlafen“, vermutete Sarah.

Anny knurrte leise. „Pssttt“, flüsterte Sarah ihrer treuen Hündin ins Ohr und Anny schleckte ihr einmal durch das Gesicht. Sie hatte verstanden.

Dann sahen die Kinder, warum Anny geknurrt hatte. Am Rande des Grundstücks, dort wo das Gras höher stand, sahen sie den Nachbarn in ihre Richtung schleichen. Genauso wie Sarah vermutet hatte, blieb er direkt vor ihrem Haus stehen und starrte mit finsterem Gesicht hinüber.

Die Kinder wagten nicht zu, atmen. Sarah hatte ihre Finger ganz sachte um Annys Maul gelegt, damit Anny sie am Ende nicht doch noch verriet. Der Mann stand immer noch da und ließ das Haus nicht aus den Augen.

Was würde jetzt gleich passieren? Würde der Nachbar sich von der Weide aus auf den Hof schleichen? Die Kinder starrten wie gebannt in seine Richtung. Er starrte die ganze Zeit nur zum Haus hoch. Worauf wartete er? Die Kinder konnten sich keinen Reim darauf machen. „Wahrscheinlich wundert er sich, warum Anny nicht anschlägt“, schoss es Sarah durch den Kopf. Nun, daran war jetzt auch nichts mehr zu ändern.

Er blickte sich noch einmal um und ging dann langsam weiter Richtung Pferdestall. Dabei fiel den Kindern auf, dass er einen Rucksack trug. „Was wollte er nur damit? Diebesgut einpacken!“ schlussfolgerte Tim in Gedanken.

Höhe Pferdestall blieb er wieder stehen. Sie hörten ihn flüstern. Die Pferde kamen an den Zaun und wirkten kein bisschen unruhig. Scheinbar besuchte er sie regelmäßig. Dann ging er langsam weiter.

„Was machen wir jetzt“, flüsterte Johanna, die ihn von ihrem Beobachtungsposten aus schon nicht mehr sehen konnte. „Natürlich hinterher“, entschied Tim.

Sarah und Anny machten den Anfang. In geduckter Haltung schlichen sie bis zum Pferdestall und versteckten sich dahinter. Sie konnten sehen, dass er sich vom Haus entfernte.

„Was hat er denn bloß vor“, grübelte Sarah.

„In jedem Fall hat er nicht einmal einen Fuß auf euren Hof gesetzt“, stellte Johanna fest, „ein Dieb benimmt sich nicht so.“

„Ich glaube, er geht ins Naturschutzgebiet“, sagte Sarah.

„Wie können wir ihm folgen? Wir können uns nirgendwo verstecken, und wenn er sich umdreht, sieht er uns bei dem hellen Mondschein“, sagte Tim.

„Wir können uns im Entwässerungskanal verstecken. Der ist um diese Jahreszeit trocken“, freute sich Sarah.

Der unheimliche Nachbar setzte seinen Weg fort. Die Kinder nahmen die Verfolgung auf. Es war anstrengend, wie sie in geduckter Haltung durch den Kanal laufen mussten, damit der Nachbar sie nicht entdecken könnte, wenn er sich umdrehen würde.

„Ich habe Durst“, jammerte Johanna.

„Du wirst schon nicht verdursten“, wies Tim sie zurecht.

„Es ist jetzt wichtiger, dass wir herausfinden, warum er sich nachts herumtreibt, damit Sarah wieder ruhig schlafen kann“, lenkte er ein. Es tat ihm leid, dass er so grob geworden war.

„O.k., du hast ja recht“, sagte Johanna, die schon beleidigt wieder zum Haus zurückgehen wollte.

Also setzten sie ihren mühsamen Weg durch den Kanal weiter fort. Tatsächlich sahen sie den Nachbarn dann im Naturschutzgebiet verschwinden. Dort gab es viele Büsche und Bäume und sie konnten sich gut verstecken, um ihm folgen zu können.

An einer Stelle blieb er stehen und hockte sich auf den Boden. Sie hörten ihn fluchen. Dann stand er auf und ging weiter. Die Kinder waren neugierig und schlichen sich vorsichtig zu der Stelle, wo der unheimliche Nachbar eben noch hockte.

Sie erstarrten. Anny winselte leise. Ein toter Hase steckte in einer Schnappfalle.

„Das glaube ich jetzt nicht“, sagte Sarah mit Tränen in den Augen, „er ist ein Wilderer!“

„Lass uns schnell wieder nach Hause und deinen Vater wecken“, bat Johanna.

„Nein, wir folgen ihm weiter. Wer weiß, wie viele Fallen er noch aufgebaut hat.“ Sarah hatte sich wieder gefangen. Sie durfte nur nicht auf die Falle schauen und den toten Hasen sehen. „Wir folgen ihm, damit wir meinem Vater nachher genau erzählen können, wie viele Fallen er aufgebaut hat und wir die Polizei benachrichtigen können.“

Tim nickte bestätigend, also setzten sie ihren Weg fort und schlichen dem Nachbarn weiter hinterher. Durch den großen Schreck, den sie beim Anblick des toten Hasen erlitten hatten, fühlten sie sich alle etwas gelähmt. Anny winselte noch einmal leise, als sie ihn mit der Nase anstupste. Dann folgten sie dem Nachbarn weiter.

Sie mussten nicht weit gehen, da sahen sie ihn wieder. Er hockte wieder am Boden und hielt sich eine Hand vor die Augen. Es sah aus, als ob er sich über die Augen wischen würde.

„Wenn ich es nicht besser wissen würde, würde ich sagen, er weint“, meinte Tim leise. Sarah und Johanna konnten nur nicken, denn genau diesen Eindruck hatten sie auch.

Plötzlich hob er den Kopf und starrte angestrengt auf einen Punkt. Geduckt versteckte er sich hinter einem Busch.

„Was hat er denn jetzt“, flüsterte Sarah.

Dann ging alles ganz schnell. Die Kinder hörten ein Geräusch, so als ob jemand Äste auseinanderbiegen würde, aber es kam aus einer ganz anderen Richtung. Im selben Moment fing Anny furchtbar an zu bellen und sprang in die Richtung, aus der sie vorher das Geräusch hörten. Sarah war nicht auf Annys Sprung vorbereitet und die Leine entglitt ihren Händen.

„Mist“, rief sie, als Anny nicht auf ihren Pfiff reagierte und einfach weiter lief.

Im selben Moment sprang der Nachbar aus seinem Versteck und lief bedrohlich hinter den Kindern her, die Annys Spur verfolgten.

Johanna, die sich kurz umblickte, konnte das zornige Gesicht des Nachbarn erkennen und lief noch schneller.

„Hätten sie bloß auf mich gehört und wären gleich nach Hause gegangen, um Sarahs Vater zu wecken. Jetzt waren sie dem unheimlichen Mann ausgeliefert!“ Beflügelt von ihren eigenen Gedanken lief Johanna so schnell sie konnte hinter Sarah und Tim hinterher.

Plötzlich blieben Sarah und Tim stehen. Johanna holte sie ein und pustete laut. „Schnell weiter, er ist hinter uns her“, rief sie. Erst dann sah sie, warum Sarah und Tim stehen geblieben waren.

Vor ihnen stand Anny und knurrte einen Mann an, der auf dem Boden lag und Anny nicht aus den Augen ließ. Neben dem Mann lag ein großer Beutel oder Sack, das konnte Johanna nicht so genau erkennen.

„Was macht ihr denn hier mitten in der Nacht!“ polterte eine Stimme laut neben den Kindern. Sie blickten in das zornige Gesicht des Nachbarn. Der wiederum blickte jetzt auf Anny und den am Boden liegenden Mann.

Sarah nahm ihren ganzen Mut zusammen: „Anny hat ihren Komplizen gestellt. Wir wissen alles!“

Der Nachbar blickte Sarah verdutzt an, dann zog ganz kurz ein Lächeln über sein Gesicht und er bat Sarah, Anny zurückzurufen.

„Damit Sie und Ihr Komplize uns umbringen können? Ich denke gar nicht daran!“ Jetzt wurde Sarah richtig böse.

Der Nachbar lächelte wieder und sagte nur: „Du schaust zu viel Fernsehen“, und dann ganz kurz und scharf: „Anny, AUS!“ Anny blickte sich um und war irritiert. Wo war ihr Frauchen?

Diesen Moment nutzte der am Boden liegende Mann, sprang auf und wollte weglaufen. Der Nachbar aber hatte bemerkt, was der am Boden liegende Mann plante und sprang sofort zu ihm hin und sagte: „Hab ich dich endlich, Mistkerl!“ Währenddessen drehte er ihm den Arm auf den Rücken, damit er nicht mehr fortlaufen konnte.

Jetzt verstanden die Kinder überhaupt nichts mehr. Was war hier los?

„Kinder, schaut ihr bitte mal in den Sack auf dem Boden? Aber seid vorsichtig und bekommt keinen Schreck. Ich fürchte, er enthält tote Tiere und wir haben zusammen einen Wilddieb geschnappt, der hier schon seit langer Zeit sein Unwesen treibt.“

So langsam dämmerte es den Kindern. Schnell nahmen sie ihren Mut zusammen und stürzten auf den Sack. Leider behielt der Nachbar recht. In dem Sack lagen zwei tote Hasen.

Gemeinsam gingen die Kinder mit dem Nachbarn und dem Wilddieb nach Hause. Der Sack mit den toten Hasen wurde vom Nachbarn getragen. Anny half ihm, den Wilddieb zu bewachen, damit er nicht fliehen konnte. Das hätte ihm auch nicht viel geholfen, denn zum Erstaunen von Sarah, Johanna und Tim holte der Nachbar Handschellen aus seinem Rucksack und legte sie dem Wilddieb an.

Sarahs Vater schreckte schlaftrunken hoch, als Sarah vor seinem Bett stand und laut rief: „Wach auf, Paps! Schnell! Wir haben einen Wilddieb gefasst!“

Die Worte überschlugen sich, als Sarah ihrem Vater erklärte, was sich alles ereignet hat. Sie endete mit dem Satz: „Unser Nachbar hat die Polizei schon verständigt. Sie müssen jeden Moment eintreffen!“

Schon drehte sich Sarah wieder auf dem Absatz um und war verschwunden. Es nützte nichts, er musste aufstehen und nach dem Rechten sehen. Er zog sich einen Jogginganzug über und ging nach unten.

Tatsächlich stand der Nachbar bei ihnen im Hof und hielt einen anderen Mann fest, der mit Handschellen gesichert war. Johanna, Tim und seine Sarah standen daneben und redeten ganz aufgeregt mit dem Nachbarn. Anny ließ den Mann mit den Handschellen nicht aus den Augen.

Schon fuhr ein Polizeiwagen auf den Hof. Bevor Sarahs Vater überhaupt begreifen konnte, was passiert ist, war der Polizeiwagen mit dem fremden Mann schon wieder verschwunden.

Sarahs Vater dachte, er hätte sich verhört, als der Nachbar zu den Kindern sagte: „Dann erwarte ich euch pünktlich um 9 Uhr zum Frühstück, aber bitte mit Anny und deinem Vater!“

Fröhlich hüpften die Kinder ins Haus und Anny lief hinterher.

„Darf ich wohl mal erfahren, was das alles zu bedeuten hat“, fragte Sarahs Vater.

Die Kinder erzählten alles der Reihe nach. Sarahs Vater unterbrach nicht, sondern hörte einfach nur zu.

„Und warum hat der Kauz uns jetzt zum Frühstück eingeladen“, fragte Sarahs Vater.

„Tja, er ist gar kein Kauz und auch kein Verbrecher“, sagte Sarah, „er ist unser alter Tierarzt, darum hat Anny ihn immer angeknurrt. Sie hasst es doch so sehr, wenn sie geimpft wird. Er ist jetzt in Ruhestand gegangen. Wir haben ihn nur nicht erkannt, weil er jetzt einen Vollbart trägt. Als er noch praktizierte, wurden ihm immer wieder Wildtiere gebracht, die in Schnappfallen schwer verletzt worden sind. Die meisten Tiere wurden bei uns im Naturschutzgebiet gefunden. Er hat so darunter gelitten, dass er es sich zur Aufgabe gemacht hat, zu klären, wer dafür verantwortlich ist. Aber niemand durfte davon wissen, weil jeder der Wilddieb sein könnte. Darum hatte er zu niemandem Kontakt und ist nur nachts unterwegs gewesen.“

„Ende gut – alles gut“, sagte Sarahs Vater, „dann mal schnell ins Bett mit euch, damit wir morgen alle pünktlich um neun Uhr bei unserem Nachbarn sind.“

„Was für ein Abenteuer“, murmelte Johanna noch, als die Kinder sich in ihre Decken kuschelten. Schon waren sie eingeschlafen und nur Anny gab noch einen zufriedenen Seufzer von sich, bevor sie einschlief.

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