Der große Sturm im Zwergenwald

Die Kindergeschichte unserer Autorin Maria:

„Mama, Mama“, rief der kleine Friedolin, „komm zu mir, es donnert so, ich fürchte mich!“

Schnell eilte die Mutter zum jüngsten Zwergenkind, das schon in seinem eigenen Bettchen in der kuscheligen Wurzelhöhle schlief. Jetzt war der kleine Friedolin vom Heulen des Windes und dem lauten Rauschen der Bäume aufgewacht. In dieser Nacht war es aber auch sehr stürmisch draußen. Man hörte es in den Bäumen knacken und krachen. Alle Äste mussten ihre ganze Kraft aufbringen und sich festhalten, dass sie der Wind nicht abriss. Hin und her tanzten sie alle im Sturm und dabei gaben sie furchterregende Geräusche von sich. Nein, da draußen ging in dieser Nacht kein schöner Tanz der Bäume ab.

Jetzt kam auch der Großvater aus seinem warmen Bett gekrochen. Er holte eine zweite Laterne und zündete die Kerze an, damit es etwas heller im Wurzelzimmer wurde. Der Vater war beschäftigt, alle Fensterläden fest zu verschließen, damit der Wind nicht auch noch in das Zimmer flog und womöglich das Feuer im Ofen erlosch. Als letzte kam auch Großmutter Adele mit der kleinen Lilia an der Hand ins warme Zimmer. Sie hatte sich ein dickes warmes Tuch um die Schultern gelegt und Lilia eine selbst gestrickte Wolljacke angezogen. Die ganze Zwergen-Familie war jetzt in der Küche versammelt.

„Wir müssen uns keine Sorgen machen“, sagte der Großvater. „Die große Eiche hat mir versichert, dass ihr Wurzelwerk ganz tief und fest in die Erde reicht und unsere Wohnung hier gut geschützt ist.“

Das beruhigte auch die Kinder, denn solch einen schlimmen Sturm hatten sie noch nicht erlebt.

Die Mutter setzte Wasser auf, damit sie einen leckeren Kräutertee für alle kochen konnte. Sie hatte im Sommer viele Kräuter getrocknet, um immer einen guten Vorrat zu haben. Kamille, Salbei, Thymian, Pfefferminze, Melisse, Gänseblümchen und Löwenzahn. Damit konnte sie nicht nur guten Tee kochen, sondern der ganzen Familie halfen diese Heilkräuter auch bei den vielen kleinen Wehwehchen.

Das Sammeln war nicht immer einfach gewesen. Denn die Kräuter wuchsen nicht vor ihrer Haustüre im Wald. Sie musste dazu auf die große Wiese, die sehr weit weg war. Dort hin zu laufen war anstrengend, und sie kam immer erst bei Dunkelheit wieder nach Hause zurück. Wenn sie Glück hatte, traf sie den Hoppelhasen auf dem Weg, der konnte sie dann sehr schnell zur Wiese und wieder zurück nach Hause bringen. Doch die Mutter hatte immer Angst, wenn der Hase sie auf seinen Rücken hob. Viel zu wild hüpfte er dann durch das Dickicht und sie musste sich gut in seinem Fell festhalten, damit sie nicht abstürzte. Für den Hoppelhasen war dies aber immer ein lustiger Ausflug. Und wenn er die Zwergenmama wieder gut nach Hause brachte, hatte die Großmutter meist ein großes Leckerli für ihn bereitgestellt.

So saßen sie nun in dieser Nacht alle zusammen um den großen runden Tisch und tranken Melissentee, damit sie nach dem Sturm hoffentlich wieder gut schlafen konnten.

Es wurde eine lange Nacht für die Zwergenfamilie. Sicher erging es ihren Freunden draußen in den anderen Wurzelwohnungen genau so. Aber wie ging es wohl den etwas vorwitzigen jungen Zwergenburschen, die vor zwei Wochen in die alten Pilze umgezogen waren? Diese Pilzhäuser waren eigentlich gar nicht mehr bewohnbar. Viel zu undicht war das Pilzdach und der Stamm war auch nicht mehr so standfest. Aber die jungen Burschen sind trotz aller Warnungen dorthin gezogen. Der große Bruder von Friedolin und Lilia war auch dabei, er wollte unbedingt ein Abenteuer erleben. Hoffentlich war ihm und seinen Freunden nichts passiert.

Als der Wind draußen langsam nachließ, das Feuer im Ofen nur noch schwach tänzelte, beschloss die kleine Zwergenfamilie, wieder in ihre Betten zu gehen. Die Zwergen-Mama konnte nicht gleich einschlafen. Sie grübelte noch über so viele Dinge nach, dass sie einfach keinen Schlaf fand. Und neben ihr lag laut schnarchend der liebe Zwergen-Papa. Sein Schnarchen ließ sie erst recht nicht einschlafen. Also stand sie lieber wieder auf und wollte noch eine Tasse Tee trinken.

Gerade, als sie ihren Honig im Tee umrühren wollte, hörte sie ganz zarte Pieptöne.

„Oh“, dachte sie, „das hört sich ganz nach Lilia an. Vermutlich hat sie einen schlechten Traum“.

Schnell lief sie an das Bettchen der kleinen Lilia. Doch die lag ruhig da und schlief sehr friedlich.

„Hm, ich höre wohl schon Gespenster.“

Sie wollte sich wieder setzen, da hörte sie es wieder. Ganz deutlich. Es war ein zartes Piepsen, fast ängstlich hörte es sich an.

Schnell rannte sie zu ihrem schnarchenden Mann und rüttelte ihn sehr unsanft wach.

„Komm in die Küche“, flüsterte sie ihm zu, „ich höre Piepstöne.“

„Frau“, murmelte der Vater schlaftrunken, „das ist nur der Wind. Leg dich wieder ins Bett und schlafe endlich weiter.“

„Nein, das ist nicht der Wind. Der heult zwar, aber er piepst nicht. Steh jetzt auf und komm, bitte. Sicher braucht jemand dringend Hilfe.“

Die Augen verschlossen und immer noch ganz verschlafen, stand der Vater auf und schlürfte hinter seiner Frau in die Küche.

„Mach jetzt deine Ohren auf und höre bitte ganz genau hin“.

Es fiel dem Zwergen-Papa nicht leicht, sich zu konzentrieren, aber er legte sein Ohr an das Fensterglas und hoffte, ganz schnell wieder ins Bett zu kommen.

Doch, da war was. Ganz leise und ängstlich. Es hörte sich fast wie ein Wimmern an. „Piep – piep – piep“. Und gleichzeitig war da noch ein lautes Pfeifen. Viel zu schrill klang dies in seinen Ohren. Er kannte doch alle Vögel im Walde, aber so schrecklich hat noch keiner gepfiffen.

Ja, da musste etwas passiert sein. Da benötigte wohl jemand dringend Hilfe. Jetzt war der Papa so wach, als hätte man ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Er musste helfen, und zwar schnell.

Alleine konnte er nicht viel ausrichten. Es war noch zu dunkel draußen. Der Wind hatte zwar nachgelassen, aber die Gefahren im Wald waren noch nicht gebannt. Da musste man besonders vorsichtig sein. Denn bei solch einem Sturm fallen oft ganze Zweige von den Bäumen und überall lagen kleine Äste und viele Tannenzapfen auf den Wegen. Das waren für die kurzen Zwergenfüße große Hindernisse.

Also lief er zum Großvater und weckte ihn auf. Doch ältere Leute haben keinen so tiefen Schlaf mehr, sodass der Großvater sehr schnell wach war und sofort verstand, dass seine Hilfe benötigt wurde.

Leise gingen sie alle zurück in ihre Küche und machten sämtliche Türen zu. Die Kinder sollten nicht wach werden, sie wollten sie nicht aufwecken mit ihrem Lärm.

Auch der Großvater konnte nun das wimmernde Piepsen vernehmen.

„Da ist wohl jemand in großer Gefahr. Wir müssen unbedingt nachsehen, was passiert ist.“

Schnell zogen sie ihre warmen Janker an und setzten sich ihre dick gefilzten Mützen auf. Die Großmutter, die natürlich auch aufgewacht war, wollte bei den Kindern bleiben. Die Mama aber ging unbedingt mit. Sie rollte eine warme Decke zusammen und band sie sich auf den Rücken. Man konnte ja nicht wissen, ob sie vielleicht gebraucht wurde. Jeder nahm eine Laterne, die noch mit einer neuen Kerze bestückt wurde, und sie gingen hinaus in die Dunkelheit. Die ganze Umgebung um ihre Wurzelhütte war in dieser Nacht sehr ungemütlich. Viele Zweige, Blätter, Tannenzapfen und Eichelnüsse lagen wild verstreut auf dem Boden. Sie mussten mächtig aufpassen, dass sie nicht stolperten und sich womöglich selbst verletzten.

Doch sie hörten immer deutlicher, wie das flehende Piepsen lauter und lauter wurde, und immer näher kam. Ganz genau leuchteten sie mit ihren Laternen den gesamten Waldboden ab.

Und da, da sahen sie das Unglück. Ein ganz kleiner junger Vogel, er hatte noch gar nicht sein vollständiges Federkleid an, stellenweise war er noch nackt, lag zwischen großen braunen Blättern und dem jungen Sauerklee, der wie ein Bett den Waldboden bedeckte. Nur noch leise Piepser kamen aus dem kleinen Schnabel, dafür blickte er die Zwergenfamilie mit ganz großen Augen an. Es war ein junger Bluthänfling, der da so hilflos auf dem Boden lag.

„Hab keine Angst, wir werden dir helfen, dass du wieder zu deiner Mama kannst“, tröstete ihn die Zwergen-Mama. Ganz oben im Baumwipfel einer großen Tanne flog die Bluthänfling-Mutter völlig nervös hin und her und gab ganz verzweifelte Pieptöne von sich.

Jetzt war der Großvater gefragt, denn er kannte viele Vogelsprachen. Er hat sie schon als Kind von seinem Großvater gelernt.

„Hänfling Mama, mach dir bitte keine Sorgen. Deinem kleinen Vogelkind werden wir jetzt helfen. Und du, bleib in deinem Nest, bis wir wieder kommen. Es wird aber etwas dauern, habe also ein wenig Geduld.“

Die Vogel Mutter antwortete dem Großvater, dass er doch bitte gut für ihr kleines Vogelkind sorgen soll.

„Ja natürlich passen wir gut auf dein Kind auf. Wir bringen es jetzt zuerst in unser Wurzelhaus und werden überlegen, wie wir es dir am Besten wieder in das Nest legen können.“

Ganz behutsam hoben sie gemeinsam das kleine Vogelkind, das vor lauter Angst am ganzen Körper zitterte, in die ausgebreitete Decke, die die Zwergen-Mama vorsorglich mitgenommen hatte. Gut, dass Mamas immer wissen, was gebraucht werden kann. So lag der kleine Vogel weich und beschützt in der Decke. Der Vater war ein starker Zwerg, er konnte das Vogelkind in der Decke alleine tragen. So wanderten die Zwerge wieder zurück in ihre kleine Wurzelhöhle. Dort wurden sie von Großmutter Adele schon erwartet. Sie hatte in der Zwischenzeit den Ofen wieder angeheizt und erneut Wasser für einen wärmenden Tee aufgesetzt.

Sanft legte Vater Logan das Vogelkind auf dem weichen Sofa ab. Die Großmutter eilte gleich herbei und redete ihm gut zu, damit es sich nicht fürchten musste. Auch die Großmutter konnte sich in der Vogelsprache verständigen. So hatte der kleine Bluthänfling gleich nicht mehr so große Angst und beruhigte sich ein wenig. Sorgsam und liebevoll untersuchte ihn die Großmutter. Aber er schien den Sturz gut überstanden zu haben. Er hatte keinerlei Verletzungen davongetragen. Darüber waren alle sehr froh. Nicht auszudenken, wenn das Vogelkind einen Flügel gebrochen hätte. So wie es aussieht, hatte der kleine Vogel nicht einmal eine Gehirnerschütterung. Der weiche Waldboden hat ihn gut aufgefangen.

Nun überlegte die Zwergenfamilie, wie sie den kleinen Vogel wieder sicher in sein Nest bringen konnten. Ganz konzentriert grübelten sie über verschiedene Möglichkeiten nach.

„Wir müssen alle Leitern, die es in unserer Gemeinde gibt, zusammenbinden. Vielleicht kommen wir damit so hoch, dass wir ihn wieder ins Nest legen können“, meinte der Großvater. Schnell rannte der Vater zu den Nachbarn und läutete alle aus den Betten. Und es dauerte dann auch nicht lange, bis alle Leitern aus dem kleinen Zwergendorf vor dem Wurzelhaus lagen.

Das war natürlich im ganzen Dorf nun eine große Aufregung. In allen Häusern brannte Licht und an Schlaf war nicht mehr zu denken. Alle waren besorgt und überlegten, wie dem kleinen Vogel und seiner besorgten Mama geholfen werden konnte. So kamen immer mehr Leute in das Wurzelhaus. Sie hatten sämtliche Stricke und Leitern mitgebracht und ein paar Männer begannen schon, die Leitern mit den Stricken zusammenzubinden. Oh, das wurde aber eine sehr lange Leiter.

Das Problem der langen Leiter sahen die hilfsbereiten Zwerge aber erst, als sie alle 89 Leitern miteinander verbunden hatten. Das war jetzt eine riesig lange Leiter. Doch diese aufzustellen, das war das nächste Problem. Daran hatten die Zwerge nicht gedacht. Wie sollten sie das ewig lange Teil aufstellen und an den Baum lehnen? Dazu reichten ihre Kräfte nicht. Das mussten sie einsehen. Ganz traurig schauten sie nun alle. Sie wollten helfen, waren aber zu klein dazu, den Vogel wieder in sein Nest zu tragen. Auf allen Gesichtern lag ein Ausdruck der Verzweiflung. Denn sie konnten das Vogelkind nicht hier unten, weg von seiner Mama, großziehen. Der kleine Vogel würde das nicht überleben. Er brauchte die Wärme seiner Vogelmutter und das spezielle Vogelfressen, das sie ihm immer in ihrem Kropf so schön vorverdaute, damit er es gut schlucken und sein Bauch es gut vertragen konnte. Und damit der kleine Vogel nicht verhungert, drängte die Zeit. Denn die Vogelmama fütterte ihr Junges alle zwei Stunden.

Und wieder war es der Großvater, der einen Lösungsvorschlag hatte.

„Ich glaube“, sagte er zu all den lieben Helfern in seiner Stube, „wir müssen zu den Riesen gehen und sie um Hilfe bitten.“

„Oh, aber es ging noch nie einer zu den Riesen. Wir sind ihnen bisher immer aus dem Weg gegangen.“

„Ja, das ist richtig“, antwortete der Großvater dem Nachbarn, „aber jetzt haben wir eine besondere Situation. Und das Leben des kleinen Hänflings hängt davon ab“.

Alle fürchteten sich vor den Riesen. Die Riesen, so nannten die Zwerge die Menschen. Und sie ängstigten sich vor ihnen, weil sie so groß waren. Bisher hatten sie die Menschen immer nur aus der Ferne beobachtet. Doch, was der Großvater den Dorfbewohnern nun vorschlug, das versetzte sie in sehr große Angst. Wer soll so mutig sein, sich freiwillig den Riesen zu zeigen? Sie wollten sich gar nicht vorstellen, was die Riesen mit ihnen alles machen konnten. Schon allein der Gedanke daran ließ jeden Einzelnen erzittern.

Bei all dem Grübeln hatte keiner gemerkt, dass während der Diskussion noch ein paar junge Zwergenburschen in die Wurzelhütte gekommen sind. Es waren genau die vier Burschen, die vor zwei Wochen in die morschen Pilzwohnungen gezogen waren. Eigentlich waren sie gekommen, um zu sehen, ob der Sturm im Dorf großen Schaden angerichtet hatte. Ihre Pilzhäuser hat es zwar schwer hin und her geschleudert, aber kein einziges Haus war eingestürzt. Dafür waren sie sehr dankbar. Und als sie jetzt hörten, dass mutige Männer gesucht wurden, war es für die Vier selbstverständlich, sofort zu helfen.

„Wir werden zu den Riesen gehen und sie um Hilfe bitten“, sagte Lilias großer Bruder Jakob.

„Ja, und wir werden nicht eher zurückkommen, bis wir Hilfe gefunden haben.“

Oh, da staunten die ganzen Dorfbewohner über den Mut der vier Buben. Hatten sie sich doch die letzten Tage noch über deren vorlautes Reden und ihr freches Handeln sehr aufgeregt und oft gelästert und geschimpft. Doch jetzt schauten alle mit Respekt zu diesen mutigen Eiferern empor.

„Ihr seid mutig. Wir alle danken euch dafür.“

Während die großen Zwerge redeten und sinnierten, wie die vier Burschen am Besten und Schnellsten in das Land der Riesen kamen, lag der kleine Hänfling warm eingepackt auf dem Sofa. Auch er hatte Angst, denn er wusste nicht, ob er seine Mama, seinen Papa und seine Geschwister je wiedersehen würde. Ab und zu kullerte eine Träne aus seinen Augen und verrieten der Zwergen-Mama, wie sehr er Heimweh nach seiner Familie hatte.

„Hab keine Angst“, tröstete sie ihn, „Jakob und seine Freunde werden Hilfe holen, damit du ganz schnell wieder nach Hause in dein Nest kannst.“

Sie setzte sich neben den kleinen Vogel und summte ein Lied, um das Vogeljunge zu beruhigen. So machte sie es immer bei ihren Kindern und hoffte, dass auch der Hänfling sich dabei entspannen konnte.

Schon kurze Zeit später traten die vier großen Burschen den langen Weg zu den Riesen an. Dazu mussten sie durch den Wald, vorbei an der großen Wiese, über den tiefen Teich und den Hügel hinauf bis zu der langen Kastanienallee. Dort stand eine kleine Hütte, ganz alleine auf einem großen Grundstück.

Warm angezogen und mit einer Brotzeit ausgerüstet, starteten sie ihren langen Weg. Damit sie schneller vorwärts kamen, hatte der Großvater natürlich sämtliche Tierfreunde der Zwerge alarmiert. So standen schon die Hasen bereit, die die Jungs bis zum tiefen Teich hinter der großen Wiese brachten. Und dort warteten vier Wildenten, die die Buben trocken über den Teich brachten. Das Vogelunglück hatte sich nämlich schon bis zu den Enten und Gänsen herumgesprochen. Und alle wollten sie helfen, damit der kleine Bluthänfling wieder in sein Nest kam.

Doch als die vier Burschen am anderen Ufer des Teiches ankamen, waren sie auf sich alleine gestellt. Hier begann die Grenze zu den Menschen, die bisher noch kein Zwerg überschritten hatte. Mutig, aber im Inneren doch etwas ängstlich, schritten die Vier den Hügel hinauf. Es war ein mühsamer Weg. Große Steine und hohes Gras säumten den Weg, sodass die kleinen Zwerge nur langsam vorwärtskamen. Es war eben anstrengend für ihre kurzen Beine, ständig über die Steine zu klettern und das Wiesenkraut zu umgehen. Und dann ging es auch noch bergauf. Da mussten sie schon öfters anhalten und verschnaufen, die vier tapferen Buben.

Die Sonne stand schon sehr hoch, als sie endlich an der Kastanienallee ankamen. Vorsichtig schlichen sie sich hinter den ersten Baum, um die Lage zu erkunden. Sie wollten nicht gleich gesehen werden, erst wollten sie sich ein Bild von der neuen Welt machen.

„Komm, wir setzen uns auf den Ast, dann haben wir einen besseren Überblick“, sagte Jakob. So kletterten sie nacheinander auf einen großen Zweig, der ihnen genug Platz bot, dass sie alle vier dort sitzen konnten.

„Wir werden uns jetzt etwas ausruhen und alles beobachten. Vielleicht sehen wir dann einen Riesen, mit dem wir reden können.“

Sie wurden auch langsam durstig und hungrig. Gut, dass sie einen Rucksack mit Essen und Trinken dabei hatten. Das würde ihnen jetzt sicher gut tun. Jeder hatte ein Brot und einen Apfelschnitz dabei und zum Trinken hatte ihnen die Mutter eine Flasche vom selber gemachten Kirschsaft mitgegeben.

Doch plötzlich hörten sie eine laute Stimme. Erschrocken schauten sie zu der Hütte. Dort stand ein sehr großer Mann. Er hatte einen lustigen grünen Filzhut auf, der eigentlich fast gleich aussah, wie der vom Zwergen-Großvater. Und auch sonst hatte er viel Ähnlichkeit mit ihm. Leicht gebückt stand er da, mit einer Pfeife im Mund, die aber gar nicht brannte. Seine Haare, die unter dem Hut hervor lugten, waren lockig und ganz weiß und das Gesicht war ein großes Faltenbeet. Ein Riese, der eigentlich aussah wie ein Zwerg. Gut, die Nase war nicht ganz so groß, und einen Bart hatte er auch nicht, aber sonst gab es keine großen Unterschiede. Mit wem redete er denn? Die Stimme, die sie hörten, gehörte nicht zu dem Riesenmann. Da, jetzt sahen sie die Stimme, sie kam hinter einer Hütte hervor und hatte einen Korb in der Hand.

„Schau Großvater, die Hühner haben heute 6 Eier gelegt“, sagte die Stimme und griff in den Korb und holte ein braunes Hühnerei heraus. Es war ein junger Riese, vielleicht noch ein Kind.

„Dann geh schnell zu deiner Großmutter und sag ihr, sie soll davon die besten Rühreier machen, die sie kochen kann“, sagte der Großvater zu dem Jungen. „Und sie soll nicht vergessen, sie mit den frischen Kräutern zu würzen.“

Die vier Zwergenburschen schauten sich an und in jedem Gesicht stand ein großes Staunen. So also sahen die Riesen aus. Und sie konnten sie sogar verstehen. Wären sie nicht so furchtbar groß, müssten sie sich gar nicht vor ihnen fürchten.

„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte einer der Zwerge.

„Ich schleiche mich zu dem großen Riesen“, sagte Lilias großer Bruder. „Dort warte ich einen günstigen Moment ab, dass ich mich ihm zeigen kann. Ihr beobachtet mich und kommt mir zu Hilfe, wenn ich in Gefahr bin.“

Leise rutschte Jakob vom Baum herunter und lief gebückt auf das Haus und den großen alten Mann zu. Er wollte nicht gleich gesehen werden, er wollte ja den günstigsten Moment abwarten.

Doch um Himmels willen, was war das. Was kam da mit einem riesigen Maul und furchtbaren lauten Tönen direkt auf ihn zugerannt? Jakob blieb wie erstarrt stehen und zitterte am ganzen Leib. Er hatte plötzlich riesige Angst, dass dieses Untier ihn fressen würde.

„Lumpi“, rief da der alte Mann, „was bellst du denn, dort ist doch nichts“.

Doch Lumpi, der Hund der Riesen, wollte nicht aufhören zu bellen. Er stand vor Jakob und bellte und bellte.

Die anderen drei Zwerge saßen mit weit aufgerissenen Augen auf ihrem Ast und hatten ebenfalls furchtbare Angst. Sie hatten Angst, dass ihr Freund nun aufgefressen wird und sie hatten Angst, dass sie auch von diesem Untier entdeckt würden.

Das schreckliche Gebell regte bei dem alten Mann doch die Neugier. So lief er zu seinem Hund, um nachzusehen, warum er denn mit Bellen gar nicht mehr aufhört. Was der Riesen-Großvater aber dort sah, ließ ihn sehr staunen. Da stand doch tatsächlich mitten im hohen Gras ein kleiner Wicht, der aussah wie ein Gartenzwerg, aber er bewegte sich. Er bückte sich langsam zu Jakob hinunter und nahm ihn ganz sanft auf seine Hand.

„Ja, wer bist denn du?“, fragte er den Zwerg. „Und wo kommst du denn her? Warum zitterst du denn so?“ Der Großvater war ganz angetan von dem kleinen Zwerg und ging mit ihm sehr behutsam in Richtung Haus. Lumpi hatte nun endlich mit dem Bellen aufgehört.

„Schau mal Jonathan, was ich hier habe“, rief er zu seinem Enkelsohn. Der kam schnell aus dem Haus gerannt und blickte mit ganz großen Augen zu dem Zwerg.

„Großvater, wer ist das? Kennst du diesen Zwerg?“

„Natürlich nicht“, antwortete Großvater seinem Enkel. „Ich denke, er hat sich sicher verlaufen. Denn er hat schrecklich Angst, sieh nur, wie er zittert.“

„Ja, ich habe wirklich Angst“, sagte da auf einmal der mutige Jakob. „Werden Sie mir etwas tun?“

„Aber nein, was sollte ich dir denn tun?“, antwortete der Riesen-Großvater. „Was machst du hier?“

„Ich komme aus dem Zwergenland, im Wald, gleich hinter dem Teich“, antwortete Jakob tapfer. „Wir suchen einen Riesen, der uns hilft, den kleinen Hänfling zu retten.“

Jetzt wurde aber der Großvater sehr hellhörig. Er ließ sich von Jakob die ganze Geschichte erzählen und sagte dann zu Jonathan: „Schnell, hole unsere Jacken, wir gehen ins Zwergenland.“

Der kleine Zwerg war ganz gerührt. Das hätte er nicht gedacht, dass die Riesen so freundlich sind.

„Halt, ich habe noch drei Freunde. Die sitzen dort auf dem Baum und warten auf mich“, sagte der kleine Zwerg.

Jetzt musste der Riesen-Großvater aber lachen, dass da noch mehr Zwerge waren. Aber das war für die Riesen kein Problem. Großvater und Jonathan nahmen auf jede Schulter einen Zwerg und so marschierten sie den Hügel hinunter in Richtung Zwergenwald. Am Teich angekommen, stiegen sie in Großvaters Ruderboot und ruderten an das gegenüberliegende Ufer. Da staunten die Wildenten nicht schlecht, als sie sahen, wer bei den Riesen auf den Schultern saß.

Jakob gab nun dem Großvater ganz genaue Anweisungen, wie sie laufen mussten, um in das Zwergenland zu kommen.

 

„Halt, jetzt sind wir gleich da“, sagte Jakob. „Lass mich am Besten runter, damit ich meiner Familie gleich sagen kann, dass wir hier sind.“

Kaum war Jakob wieder auf dem Boden, sprang er so schnell er konnte in das Wurzelhaus zu seinen Eltern. Welch eine Freude herrschte dort, als er erzählte, dass er Hilfe mitgebracht hat.

Alle eilten sie nach draußen, um die freundlichen Riesen begrüßen zu können. Nachdem was Jakob alles erzählte, hatten sie keine Angst mehr vor ihnen. Und sogar aus der Luft hörte man ein lautes Piepsen, die Bluthänfling-Mama hatte alles gesehen und gehört und war ganz aufgeregt.

Der Riesen-Großvater und Jonathan gingen in die Hocke, damit sie sich mit den Zwergen besser unterhalten konnten. Denn diese erklärten nun den Zweien ganz genau, in welchem Baum das Nest vom Vogeljungen ist. Die Großmutter kam derweil schon mit der Decke, in der immer noch der kleine Bluthänfling schlief, heraus und legte sie behutsam in die Hand des Riesen.

„Jonathan, hier musst du auf den Baum klettern. Ich bin wohl schon ein wenig zu alt dafür. Pass bitte gut auf und lege den kleinen Vogel zu seiner Familie ins Nest.“

Jonathan war ganz stolz, dass er solch eine wichtige Aufgabe übernehmen durfte. Auf einen Baum zu klettern war für ihn kein Problem. Er saß bei seinem Opa ständig in den Bäumen und beobachtete von dort oben aus die Welt. Langsam, aber sicher im Tritt, kletterte er Stück für Stück den Baum nach oben. Dort sah er schon, wie die Hänfling-Mama um das Nest kreiste und ganz aufgeregte Laute von sich gab. Sehr vorsichtig nahm er dann das Vogeljunge aus der Decke und legte es zu den anderen Vogelkindern in das Nest. Plötzlich trillerten die Hänfling-Mama und der Hänfling-Papa in den höchsten Tönen. Welch eine Freude herrschte jetzt dort oben. Aber auch auf dem Boden klatschte plötzlich ein ganzes Zwergendorf in die Hände und rief: „Danke – danke – vielen Dank!“

Jonathan und der Großvater gingen stolz wieder in ihr Riesenland zurück. Es war schön, neue Freunde gefunden zu haben. Und es machte sie besonders glücklich, dass sie helfen konnten. Zu Hause wartete schon die Großmutter mit den Rühreiern und fragte ganz neugierig: „Wo wart ihr denn so lange? Das Essen wird schon kalt.“ Jonathan und Großvater schauten sich an, lachten und zwinkerten sich freudig zu.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert