Die Kurzgeschichte für Kinder “Wie Kuno der Kühne zu seiner Gutenachtgeschichte kam!” wurde vom Autor Praetorius verfasst.
Am Nordpol lebte einst ein Eisbär, den nannten alle Kuno den Kühnen, denn Kuno war ein starker, großer und besonders mutiger Eisbär. Er war selbst für Eisbärenverhältnisse sehr groß, er war in seinem Eisbärendorf der Größte.
Und der Ausdauerndste war er auch, wenn es ums Rennen oder Jagen ging.
Kuno war der beste Jäger des ganzen Eisbärendorfes, und nicht selten kam es vor, dass er von seinen gefangenen Fischen einige schöne Exemplare herschenkte an andere Eisbären, die nicht so erfolgreich waren bei der Jagd.
Aber Kuno war schwermütig.
Die Schwermut hatte ihn schon oft befallen, sie war ihm als Begleiter vertraut, kam sie doch immer vor der großen Müdigkeit, die alljährlich ihn und das ganze Dorf befiel. Die sich schwer wie Blei in die Knochen legte und sie träge werden ließ, bis alle sich in Kunos Höhle versammelten (denn seine Höhle war die größte Höhle des Dorfes), sich einen Platz dicht bei den anderen suchten, um dann tief und traumlos lange zu schlafen.
Kuno hatte viel Zeit damit zugebracht, sich zu fragen, woher die Schwermut käme und warum.
Als die Eisbären des Dorfes sich wieder in seiner Höhle versammelten, ging Kuno alleine zu seiner Lieblingseisscholle vor dem Dorf und schaute auf zum Horizont. Über Schneelandschaften und Robben hinweg, über die schönen Eisblumenfelder, und dort, wo der Horizont aufhörte, sah er die Sonne.
Sie war, wie immer, wenn ihm so schwer zumute war, der Erde sehr nahe. Ihr Licht war rötlich bis orange, und sie strahlte nicht mehr hell und gelb. Immer sah sie aus, als würde sie auf die Erde fallen.
Da wurde Kuno bewusst, woher seine Schwermut stammte.
Die Sonne, dachte er.
Wie gerne bin ich mit ihr zusammen, lasse mir ihre Strahlen warm auf den Pelz scheinen und mich wärmen. Wie liebe ich dieses helle Licht auf dem Eis, wenn alles funkelt, blitzt und strahlt. Und mit ihr zu spielen … (er spielte oft mit ihr, Fangen zum Beispiel, aber sie war immer schneller als er, er hatte sie noch nie einholen können).
Diesmal, dachte sich Kuno, diesmal werde ich nicht bei den anderen in meiner Höhle liegen und schlafen. Diesmal werde ich wach bleiben und beobachten, wo sich die Sonne schlafen legt. Ich werde versuchen, herauszufinden, wo sie auf der Erde landet, und dann werde ich die anderen wecken und ihnen davon erzählen.
So waren Kunos Gedanken, denn er wusste ja nicht, dass die Sonne gar nicht wirklich auf die Erde fällt (und schon überhaupt nicht auf den Nordpol, dann würde ja alles Eis schmelzen). Und als er zu Ende gedacht hatte, ging er zurück in sein Dorf, wünschte seinen Freunden eine gute Nacht und lief los, der Sonne entgegen.
Müde war er, und kalt war ihm auch. Es gab nicht mehr viel Licht am Nordpol, die Sonne war nur noch ein roter Halbkreis am Horizont, und Kuno wurde etwas bange, denn er wusste nicht, wo er die Sonne suchen sollte, wenn sie ganz verschwunden wäre.
Doch Kuno war Kuno der Kühne. Daher ließ er sich von seinen Gedanken nicht ablenken, auch nicht von der Kälte, und spazierte immer weiter dem Horizont entgegen.
Irgendwann muss ich ja dort ankommen, wo die Sonne sich schlafen legt, dachte er.
Er ging viele Stunden. Es wurde dunkler und kälter, und dann war der Moment gekommen, als Kuno von seiner Müdigkeit übermannt wurde. Er suchte sich eine kleine Eishöhle und legte sich dort hinein, um ein wenig nur zu schlafen und dann mit neuen Kräften weiterzuziehen.
Kuno schlief nicht gut und nicht lange.
Dazu muss man natürlich wissen, dass Eisbären normalerweise sehr lange schlafen, manche schlafen Wochen oder Monate, ohne einmal aufzuwachen.
Kuno aber war so aufgeregt und tatendurstig, dass er sehr kurz schlief, vielleicht drei Tage oder vier. Danach wachte er, alleine und immer noch sehr müde, in der Höhle auf und sah sich um. Es war dunkel, nur am Himmel, weit über dem Horizont, waren kleine Lichter zu sehen.
Von der Sonne keine Spur.
Kuno wurde bange ums Herz.
Die Sonne ist weg!, dachte er traurig, als er nach oben sah.
Sie ist auf die Erde gefallen und zerbrochen. Am Himmel sind nur noch Scherben von ihr zu sehen, lauter kleine Sonnenscherben.
Er war traurig, und Hunger hatte er auch. Auf seiner Reise hatte er nicht einen Fisch gefangen, so beschäftigt war er damit gewesen, die Sonne zu jagen und die Müdigkeit zu vergessen.
Er saß vor einer kleinen Höhle, die nicht seine war. Seine Freunde, die sich an ihn kuschelten und so Wärme und Nähe teilten, waren nicht hier. Es gab keine Vorratskammer, aus der er sich eben mal einen Fisch holen konnte, um seinen Hunger zu stillen. Und es war zu dunkel, um den Rückweg zum Dorf, zu seiner Höhle zu finden.
Er fühlte sich elend und gar nicht mehr kühn.
Da hörte er neben sich eine Stimme. Es musste ein sehr kleines Tier sein, das da mit Kuno sprach, denn die Stimme klang leise und dünn.
Sie sagte: „Lieber weißer Bär, warum bist du denn so traurig?“
Kuno blickte sich um, konnte aber nicht ausmachen, woher diese Stimme kam. Er konnte nicht einmal die eigene Pranke vor Augen sehen.
Er fragte ins Dunkle zurück:
„Wer spricht denn da mit dem armen Kuno? Komm doch bitte näher und laß dich ansehen, ich kann einen Freund jetzt wirklich gut brauchen.“
Er hörte leise, trippelnde Schritte, dann spürte er auf seiner Schulter zwei kleine Füße, und die Stimme erklang plötzlich sehr nah an seinem Ohr:
„Ich bin ein Schneefink“, sagte der Schneefink.
„Ich heiße Fritz und ich liebe die Dunkelheit, denn dann kann ich herumfliegen und mir unseren schönen Nordpol ansehen, ohne dass ich Angst davor haben muss, dass mich ein wildes Tier fressen will. Und wer bist du?“
Kuno versuchte, im Dunkeln etwas von Fritz, dem Schneefinken, zu erkennen, aber er gab es auf und schloss die Augen. Er holte tief Luft.
„Ich bin Kuno, der Eisbär“ (dass er „der Kühne“ genannt wurde, wollte er gerade nicht erwähnen), „und ich wollte die Sonne fangen, aber jetzt ist sie auf die Erde gefallen und in Tausenden von Scherben am Himmel. Und ich finde im Dunkeln nicht mehr den Weg nach Hause. Dabei wäre ich so gerne wieder in meinem Eisbärendorf bei meinen Freunden und würde noch ein wenig bei ihnen schlafen, denn müde bin ich auch, und hungrig.
Und ein bisschen Angst habe ich auch …“
Das hatte er sehr leise gesagt, denn es war ihm peinlich, einem Vogel gegenüber zuzugeben, dass er Angst hatte.
Aber Fritz hatte es gehört, denn der Fink flog ja direkt vor des Bären Schnauze, und es rührte ihn, dass dieser große Bär Angst und Heimweh hatte. Er hatte Mitleid mit Kuno, dem großen, weißen Bären.
„Weißt du was?“, fragte Fritz. „Wir suchen gemeinsam den Weg zu Deinem Dorf, ich kann in dieser Dunkelheit sehen, und du kannst mich beschützen, falls uns unterwegs jemand begegnen sollte, der mir Böses will. Wie findest du das?“
Kuno gefiel der Gedanke, und so zogen die beiden durch die klare, kalte Polarnacht.
Sie erzählten sich auf dem Weg viele Geschichten. Fritz erzählte von der Luft, von den Vögeln und dass die Schneewürmer dieses Jahr nicht so saftig und dick waren wie früher.
Kuno erzählte von seinen Freunden im Dorf, von ihren gemeinsamen Fischzügen, dass er die Sonne noch nie hatte fangen können und auch von seiner Schwermut.
Fritz hörte seinem pelzigen Freund gut zu und sagte nur wenig. Vieles von dem, was Kuno erzählte, kannte er nicht: Fritz war noch nie im Schnee ausgerutscht, er jagte keine Fische oder die Sonne, er flog lieber von einem Eisberg zum nächsten oder ließ sich in Windböen über dem Nordpol treiben.
Das wiederum kannte Kuno nicht, und so hatten die beiden viele Geschichten, die sie sich erzählen konnten, und ihnen wurde auf ihrer Reise nicht langweilig.
Als Kuno wieder einmal von der Sonne anfing und seiner Angst, sie könnte auf ewig in Splittern am Himmel bleiben und mit ihr die Dunkelheit, dachte Fritz nach. Denn er war schon weit gereist, hatte viele Geschichten von anderen Tieren gehört und erinnerte sich an die Erzählungen.
„Ich glaube, es gibt noch andere Pole. Nicht nur den Nordpol, auch einen Südpol, einen Ostpol und einen Westpol, und ich glaube, dass die Sonne auch dort verschwindet und wieder auftaucht. Das ist so ein Spiel, das die Sonne spielt, schließlich hat sie den ganzen Tag über nichts anderes zu tun als zu scheinen und zu strahlen.“
Kuno war verwirrt und müde. So müde. Seine Muskeln waren schwer, seine Augenlider fielen ihm beim Laufen zu, und Hunger hatte er, er hätte einen ganzen Schwarm Fische essen können, und dann noch einen und noch einen.
Doch Fritz’ Erzählung ließ ihn hellhörig werden.
„Meinst du, die Sonne ist gar nicht auf die Erde gefallen? Meinst du, die Sonne ist nicht in Scherben am Himmel? Warum wird sie dann immer, wenn ich so müde werde, rot und wärmt nicht mehr?“
Sein Freund Fritz flog ihm voran. Er hatte Kunos Fragen nicht gehört, denn in diesem Moment hatte er von oben etwas entdeckt, und jetzt kam er ganz aufgeregt angeflattert, setzte sich auf Kunos Schulter und schnatterte ihm in sein weißes Bärenohr:
„Ich habe dein Dorf entdeckt! Es ist direkt hinter dem Hügel da vorne, ich bin mir ganz sicher, es muss dein Dorf sein. Los, beeil dich, ich bin so neugierig darauf, deine Freunde kennenzulernen.“
Kuno fing an zu laufen. Er vergaß die Müdigkeit und den Hunger und seine Frage. Er war so aufgeregt, er würde endlich wieder in seinem Dorf sein, er könnte schlafen in seiner Höhle, dort gab es die Vorratskammer und Wärme, und seine Freunde waren alle dort.
Auch Fritz war ganz aufgeregt, er flatterte in der Luft über Kuno herum und trällerte ein Freudenlied.
Und wirklich: Hinter dem Hügel lag das Eisbärendorf. Alles war unverändert, und Kuno brauchte nun auch kein Licht mehr, um zu wissen, wohin er seine Schritte lenken musste. Er fühlte, dass er auf dem richtigen Weg war. Seine aufregende Reise war zu Ende, er würde endlich schlafen können, und vielleicht wäre, wenn er aufwachte, die Sonne auch wieder da.
Mit letzter Kraft kroch er in seine Höhle. Warm war es darin, und gut roch es, nach Eisbären und Fisch und Geborgenheit. Alle Schwermut war verschwunden, er war wieder in seiner Heimat, er war glücklich.
Kuno der Kühne kuschelte sich an seine Eisbärenfreunde und schlief sofort ein.
Fritz unterdessen freute sich, seinen Freund sicher nach Hause begleitet zu haben, und flog einige Runden über dem Dorf, bevor auch er seinen Heimweg antrat.
Als Kuno aufwachte, war die Höhle leer. Helles Licht schien durch den Eingang. Verschlafen rieb er seine Augen und überlegte, ob er wirklich einen Schneefinken mit Namen Fritz getroffen hatte. Er dachte an seine Reise und an die hellen Scherben am Himmel, und dann stand er auf, räkelte sich und streckte seine Schnauze aus der Höhle.
Die Sonne schien vom Himmel, hell und gelb und strahlend. Seine Freunde spielten draußen herum, und einer hatte ihm einen Fisch gefangen, denn die Vorratskammer war nach dem langen Schlaf leer, genau wie Kunos Magen.
Mit großem Appetit aß er den Fisch und machte sich selbst auf den Weg, um an seinem Lieblingsplatz sein Jagdglück zu erproben.
Als er ankam, saß dort ein kleiner weißer Vogel.
„Kuno, mein Bärenfreund, erinnerst du dich an mich? Jetzt sehen wir uns endlich auch, wie schön!“
Kuno stutzte, dann führte er einen Bärenfreudentanz auf und strahlte wie die Sonne über das ganze Gesicht.
Die beiden unterhielten sich sehr lange. Kuno stellte Fritz all seinen Eisbärenfreunden vor, und Fritz wurde ein gern gesehener Gast im Dorf der Eisbären. Sie gaben ihm den Beinamen „Fritz der Wegfinder“, und Fritz trug diesen Namen mit großem Stolz.
Kuno und Fritz sind immer noch Freunde. Und wenn wieder die lange Nacht am Nordpol hereinbricht, wird Kuno immer noch etwas schwermütig, denn er liebt die Sonne immer noch mehr als die Dunkelheit. Doch er vertraut jetzt darauf, dass sie wieder scheinen wird, wenn er erwacht.
Darum legt er sich nun gerne hin zum Schlafen, und Fritz der Wegfinder erzählt ihm dann noch Geschichten, die er ihm ins Ohr flüstert, immer leiser werdend, damit Kuno auch gut einschlafen kann. Wenn er eingeschlafen ist, dreht Fritz noch eine Runde über dem Dorf und kommt erst wieder, wenn die Sonne wieder aufgegangen ist. Dann feiern alle im Eisbärendorf ein riesiges Fest, und Fritz ist Ehrengast und bekommt von Kuno die schönsten Fischhappen zugesteckt.
Und die Sonne strahlt dazu vom Himmel, gelb und rund und leuchtend.
Eine wunderschöne, liebevoll erzählte Geschichte, die Vorschulkinder sicher gern hören und dabei gelegentlich aufhorchen, z.B. wenn vom West- und Ost-Pol die Rede ist. Denn das wissen sogar die Kleinsten schon (zumindenst die, die oft vorgelesen bekommen), dass es nur einen Norpol und einen Südpol gibt. An einem davon leben die Eisbären und an dem anderen die Piguine. Wo genau, das verwechseln selbst die Erwachsenen manchmal. 🙂
Mir hat diese Geschichte vom Eisbären Kuno sehr gut gefallen, so richtig zum vorlesen und mit fiebern…….sehr schön
Lieben Gruß
Bechthold Christiane