Ende des Monats ist es wieder soweit: der Nannen Preis, eine der begehrtesten Auszeichnungen für Journalisten, wird am 28. April 2016 in Hamburg verliehen. Allein in der Kategorie Reportage wurden dieses Jahr rund 400 Einreichungen gezählt, darunter viele Porträts über Geflüchtete, die eines der wichtigsten Themen des vergangenen Jahres aufgreifen.
Was die Kategorie Porträt auszeichnet und warum sie unter Journalisten so hoch angesehen ist, beleuchtet dieser Beitrag aus unserer Reihe „Journalistische Darstellungsformen“.
Was ist ein journalistisches Porträt?
Den Begriff Porträt assoziieren die meisten Menschen zunächst mit einem Gemälde oder Foto statt mit einem geschriebenen Text – und damit liegen sie gar nicht so falsch: Ein Porträt ist eine möglichst tiefgehende Momentaufnahme des Lebens einer bestimmten Person. Anders als in manchen Formen der Kunst darf ein journalistisches Porträt jedoch nicht verzerren oder überspitzen, sondern unterliegt dem Anspruch einer wahrheitsgemäßen Darstellung aus verschiedenen Perspektiven.
Während ein kurzes Porträt (ca. 50-100 Zeilen) auch der kurzen Vorstellung einer Person oder eines Unternehmen dienen kann, gehört ein langes Porträt (oft mehr als 200 Zeilen) wie das Interview und die Reportage zu den erzählenden Darstellungsformen und damit zu den Königsklassen des Journalismus. Die Übergänge zur Reportage sind bei einem langen Porträt fließend: Wenn sich eine Reportage um den Charakter, das Denken und Fühlen einer bestimmten Person dreht, spricht man von einem Porträt. Auch Elemente von Feature, Interview und Bericht kreuzen das Genre. Darum bildet das lange Porträt streng genommen keine eigene Gattung, sondern setzt sich aus verschiedenen journalistischen Darstellungsformen zusammen. Diese Gestaltungsfreiheit macht es jedoch keinesfalls leichter, ein gutes Porträt zu schreiben – neben tiefgreifendem Faktenwissen und sorgfältiger Recherche setzt es eine scharfe Beobachtungsgabe und viel Fingerspitzengefühl von einem Journalisten voraus.
Was zeichnet ein gutes Porträt aus?
Ein gelungenes Porträt zeigt die Persönlichkeit einer Person authentisch und mehrdimensional, indem sie aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet und ihr Denken und Handeln anschaulich beschrieben wird. Dafür ist ein hohes Maß an Vorarbeit, Sorgfalt und Einfühlungsvermögen nötig. Das letztendliche Ziel ist es, dem Leser die porträtierte Person möglichst nahe zu bringen: In einem guten Portrait gibt ein Journalist die Handlungen, Gefühle, Stimmung und Sinneseindrücke aus dem Kontext so wirklichkeitsgetreu wieder, dass der Leser das Gefühl hat, den Porträtierten für eine Weile zu begleiten.
Personen, Themen und Anlässe für ein Porträt
Porträtiert werden häufig Personen, die in der Öffentlichkeit stehen – zum Beispiel Politiker -, aber auch unbekannte Personen mit einer außergewöhnlichen Geschichte oder Lebensform. Entsprechend kann ein Porträt einerseits dazu dienen, eine bekannte Person abzulichten und der Öffentlichkeit näherzubringen, andererseits können bestimmte Themen mithilfe des Porträts einer beteiligten (unbekannten) Person veranschaulicht werden. Meist gibt es einen Anlass für ein Porträt – beispielweise ein Jubiläum, eine anstehende Wahl oder ein neues Album bei bekannten Personen; politische, soziale oder sonstige Themen von Interesse bei unbekannten Personen. In beiden Fällen wird zunächst ein zentraler Aspekt aus dem Leben des Porträtierten herausgegriffen.
Vorgehensweise beim Schreiben eines Porträts
Am Anfang steht die Recherche
Wie eine Reportage erzählt auch das Porträt eine Geschichte – die der Person im Zentrum, die aus möglichst vielen Perspektiven beleuchtet werden soll. Umfassendes Hintergrundwissen und Gespräche mit weiteren Personen aus dem Umfeld der zentralen Person sind darum die Grundvoraussetzung für ein gutes Porträt. Um gezielt Fragen stellen und Informationen verwerten zu können, steht am Anfang die Vorarbeit in Form von intensiver Recherche. Eine aus der Recherche hervorgehende These und ein Fragenkatalog dienen schließlich als roter Faden für das Porträt.
Treffen und Ortsplanung
Genauso wie ein Fotograf die Person vor Augen hat, müssen auch alle bildhaften Schilderungen im geschriebenen Porträt vom Autor selbst wahrgenommen werden. Nur so kann der für ein Porträt wichtige Kontext durch Körpersprache, Stimmung und die Umgebung der Situation eingefangen werden. Wie unabdingbar dieses Kriterium für eine saubere journalistische Arbeit ist, zeigte sich in einer Rücknahme des Henri-Nannen-Preises 2011: Der Preis für ein Porträt über Horst Seehofer wurde dem Journalisten wieder aberkannt, da es Schilderungen enthielt, die der Autor nicht selbst gesehen hatte – die einer Modelleisenbahn im Keller von Seehofers Ferienhaus. Eine Ausnahme bildet lediglich das sogenannte „kalte Porträt“, das ein echtes Kennenlernen einer Person unmöglich macht, z. B. weil sie bereits verstorben ist.
Meist begleitet der Journalist den Porträtierten zu verschiedenen Orten, die eine Rolle im Leben der Person spielen – zum Beispiel zu Hause, zur Arbeitsstelle oder zu sonstigen Plätzen, die mit der Geschichte der Person verknüpft sind. Ein einzelnes Treffen ist theoretisch möglich, kann aber kaum verschiedene Facetten einer Person zeigen. Wie bei einer Reportage begleiten Journalisten die porträtierte Person manchmal über Monate.
Gespräch statt Interview
Das Treffen zwischen Journalist und Porträtiertem sollte wichtige offene Fragen beantworten und erfordert die Vorbereitung eines Fragenkataloges, der jedoch nicht wie in einem Interview abgearbeitet wird. Stattdessen sollte ein offenes Gespräch stattfinden, bei dem das natürliche Verhalten der porträtierten Person zum Vorschein kommt. Auch sollte genug Zeit zum Kennenlernen eingeplant werden, damit zunächst das nötige Vertrauensverhältnis zwischen den Beteiligten entstehen kann. Zu forsche Fragen sind unangebracht, dem Befragten soll schließlich nicht auf den Zahn gefühlt werden. Gleichzeitig bedeutet das nicht, dass nur schmeichelhafte Fragen gestellt werden – Lücken, die es zu erklären gilt, sind häufiger heiklere und unangenehme Themen, auf die auch entsprechend sensibel eingegangen werden muss.
Die Waage zwischen Nähe und Distanz
Eine große Schwierigkeit im Journalismus ist die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz. Ein gewisses Vertrauensverhältnis ist nötig, um nah an die Person im Zentrum heranzukommen, zu viel Nähe birgt jedoch die Gefahr einer subjektiven Färbung des Ergebnisses und eines vorschnellen Urteils. Genauso ist Voreingenommenheit fatal für ein wahrheitsgemäßes Porträt. Zum Handwerk eines Journalisten gehört, alles noch einmal gegenzuprüfen – egal wie glaubwürdig eine Aussage ist. Auch kann es hilfreich sein, das fertige Porträt von einer neutralen Person lesen zu lassen und nach Feedback zu fragen – wenn der Leser ein eher einseitiges Bild von der porträtierten Person hat, sollte es noch einmal überarbeitet werden.
Die schriftliche Gestaltung eines Porträts
Bei langen Porträts und Reportagen steht am Anfang die These, die den roten Faden des Porträts widerspiegelt und die zentrale Thematik der Geschichte rund um die Person aufgreift. Die folgende These aus einem ausgezeichneten Porträt lautet beispielsweise:
„Die niederländische Studentin Tanja Nijmeijer schließt sich in Kolumbien der Guerilla an. Ihre Spur verliert sich im Urwald. Jetzt vermutet der kolumbianische Geheimdienst: Tanja ist die rechte Hand eines Farc-Führers“ (Frederic Obermaier, „Ich denke, dass es meine Bestimmung ist, hier zu sein“).
Alle folgenden Szenen drehen sich um diese These, alles, was nichts mit dieser Geschichte zu tun hat, kann gestrichen werden.
Nach der These folgt ein Einstieg, der durch Zitate, Anekdoten oder Beobachtungen des Autors anschaulich gestaltet werden kann und den Leser bestenfalls direkt in das Geschehen „hineinzieht“. Ein preisgekröntes Porträt über einen Walrossjäger beginnt beispielsweise mit Beobachtungen der Umgebung:
„Der Himmel ist blau, als Oskar stirbt. Das Thermometer zeigt 15 Grad unter null. Mit einem alten Fischkutter sind sie in das Gebiet der Walrösser gefahren, dorthin, wo die Wassertiefe nur 40 Meter beträgt, irgendwo an der Westküste Grönlands. Ein Mann steht immer mit dem Fernglas im Mastkorb, um die Tiere im Packeis zu suchen: dunkle Klumpen auf weißen Schollen. Auf einer Eisscholle liegt Oskar. (Auszug aus dem Porträt „Walross im Visier“ von Sandra Schulz)
Den fortlaufenden Text kann der Autor frei gestalten, eine Mischung aus Beobachtungen, Gesagtem und Hintergrundwissen macht den Text für Leser greif- und erlebbar:
„Drei Fragen und ein Dank. Dann muss sie weg. Zwei Minuten. Es regnet immer noch. Klackklackklack machen die Schuhe irgendeiner Frau aus dem Schwanz von Presse und Lokalpolitikern, den sie seit Wochen hinter sich her schleppt. Merkels Schuhe machen keine Geräusche, sie sind flach und weich, und man kann gut in ihnen laufen.“ (Auszug aus dem Porträt „Das eiserne Mädchen“ von Alexander Osang).
Am Ende wird ein Bogen zurück zur These geschlagen, anhand einer Szene, einer Beobachtung oder eines Zitates wird wieder auf den Anfang Bezug genommen. Deutlich wird dies zum Beispiel am Ende des Porträts von Frederic Obermaier:
„Anfang 2009 dann die Überraschung: Tanja wird in Abwesenheit angeklagt. Der Geheimdienst hält sie für die rechte Hand von Farc-Vize Mono Jojoy. (…) Am 15. März 2010 erklärt Tanjas Vater in der niederländischen Presse, dass seine Tochter noch lebe. Ob sie immer noch freiwillig bei der Farc sei, sagt er nicht.“ (Ende des Porträts von Frederic Obermaier, „Ich denke, dass es meine Bestimmung ist, hier zu sein“).
Checkliste und Links zu lesenswerten Porträts
Das Porträt ist eine der anspruchsvollsten aber auch der spannendsten Genres im Journalismus. Und da die beste Schule schließlich die Praxis ist, finden Sie hier nochmal eine Checkliste, für den Fall, dass Sie sich selbst an einem Porträt versuchen möchten. Auch ein paar Links zu besonders lesenswerten Porträts, unter anderem zu den Porträts, aus denen die oben genannten Auszüge stammen, haben wir hier für Sie zusammengestellt.
Viel Spaß beim Lesen und/oder Schreiben wünscht content.de!
Checkliste zum Schreiben eines Porträts
- Was ist ein interessantes Thema/die Geschichte um die porträtierte Person?
- Recherche: Hintergrundwissen durch Archivmaterial, Befragungen weiterer Personen
- These aufstellen und Fragenkatalog anfertigen
- Planung der Treffen: Auswahl geeigneter Orte und Zeitplanung aufstellen
- Treffen: Mitschnitte anfertigen, Beobachtungen detailliert festhalten
- Roten Faden (These) beim Schreiben nicht aus den Augen lassen
- Beobachtungen, Zitate, detaillierte Szenenbeschreibungen einbringen
- Auf Bogen zwischen Ein- und Ausstieg achten
- Geschriebenes Porträt von unabhängiger Person gegenlesen lassen
Links zu lesenswerten Porträts
Sebastian Heinrich, Der alte Mann und die Donau
Porträt über einen der letzten Donaufischer, der gleichzeitig ein Unternehmen für den Handel mit importiertem Fisch betreibt. Ausgezeichnet mit dem Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Preis zum Thema wirtschaftliche Bildung 2015, zu finden unter:
Bayern Nachrichten
Frederik Obermaier, Ich denke, dass es meine Bestimmung ist, hier zu sein
Porträt über eine niederländische Studentin, die sich der Guerilla in Kolumbien anschloss. Ausgezeichnet mit dem CNN Journalistenpreis 2011, zu finden unter: cnnjournalistaward
Alexander Osang, Das eiserne Mädchen
Porträt über Angela Merkel (2000), ausgezeichnet mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis 2001 für herausragende Reportagen. Zu finden unter: Spiegel.de – Alexander Osang
René Pfister, Am Stellpult
Porträt über Horst Seehofer, Egon Erwin Kisch Preis für die beste Reportage 2011 wurde aufgrund eines beschriebenen, aber nicht vom Journalisten selbst gesehenen Elements zurückgezogen. Zu finden unter: Spiegel.de – René Pfister
Sandra Schulz, Walross im Visier
Porträt über einen Walrossjäger, ausgezeichnet mit dem Axel Springer Preis für junge Journalisten 2005, zu finden unter:
Spiegel.de – Walross im Visier
Ein Porträt muss übrigens nicht unbedingt in geschriebener Form dargestellt werden, es kann auch als auditiver oder audiovisueller Beitrag erscheinen. Ein Beispiel für ein Porträt als Radio-Feature erstellte Sandra Stalinski 2015 über die Politikerin Angela Dorn mit ihrem Porträt „Rhetorik der Macht. Wie wird man (als) Politiker?“ Es wurde 2015 mit dem Medienpreis Politik des Deutschen Bundestages ausgezeichnet. Verschriftlicht finden Sie es hier: Deutschlandradiokultur.de – Rhetorik der Macht
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