Entgegen der landläufigen Meinung existiert es noch – das altmodische ß (Es-zett oder „scharfes s“), dieser merkwürdige Buchstabe, den keine andere Sprache kennt. Allerdings wird die skurrile Verbindung aus langem s und gotischem z, später aus langem und rundem s, nicht mehr so häufig verwendet wie vor der Rechtschreibreform von 1996.
Anlässlich der Neuerungen in den Rechtschreibregeln fragte ich mich damals: brauchen wir das Ding überhaupt? So nett es aussieht – viele ausländische Deutschlerner wären ganz sicher dankbar, wenn ihnen dieses orthografische Hindernis erspart bliebe! Eigentlich hatte ich erwartet, dass das Institut für Deutsche Sprache es abschaffen würde. Schließlich leben ja auch die Schweizer ganz gut ohne ß. Und es ist schwierig genug, zwischen ss und s zu entscheiden. Mir schien es ausreichend, diesen Buchstaben passiv zu kennen, um ältere Texte lesen zu können.
Schnell wurde mir aber der praktische Nutzen dieses typografischen Relikts aus dem Mittelalter bewusst, ohne den das ß vermutlich nicht beibehalten worden wäre. Denn wenn Deutschlernende durch Unsicherheiten bei der Vokallänge zum Beispiel empfehlen, etwas in Massen statt in Maßen zu benutzen, kann das böse Folgen haben. Im Gegensatz zu früher darf das ß jetzt nicht mehr nach kurzen Vokalen (Selbstlauten) verwendet werden – auch nicht in geschlossenen Silben. So hilft es beim Erlernen der richtigen Aussprache. Vorbei sind die Zeiten, als „nass“ in Deutschland „naß“ geschrieben wurde. Sieht inzwischen sogar für mich sehr seltsam aus, ich bin schon verdorben! Aber diese Regelung enthielt vor allem auch keinerlei Hilfe in Sachen Vokallänge – im Gegensatz zum aktuellen Gebrauch. Heutzutage ist es sinnvoll, das ß zu verwenden – in Maßen statt in Massen!
Einfache und eindeutige ß-Regeln?
Das Es-zett ist beim Erlernen der deutschen Aussprache also ein Indikator für eine lange Aussprache eines vorangehenden einfachen Vokals. Noch nützlicher wäre es, wenn langer Vokal und darauffolgendes ß immer zusammenträfen, sodass auch umgekehrt beim Schreiben sofort klar wäre, dass nach einem langen Vokal ein ß kommen muss. Dies bleibt aber leider ein Wunschtraum, denn „Glas“ und „Mus“ müssen trotz ihrer Länge nach wie vor mit einem s geschrieben werden. Hier hilft aber immer noch die gute alte Verlängerungsmethode („Glas“ – „Gläser“ – stimmhaftes s im Plural, also auch im Singular kein ß. Ein ß ist ja immer stimmlos, wie bei „das Maß“[1] – „die Maße“, aber auch „aß“ – „essen“: Es ist nicht entscheidend, ob in der verlängerten Form ein ß vorkommt, sondern ob der s-Laut stimmlos ist.) Auch wenn ein Doppellaut (Diphthong) – geschrieben als ei, au, eu oder äu – vor dem fraglichen stimmlosen s-Laut steht, kann sowohl ein ß als auch ein s folgen („Reis“ oder „reiß!“).
Um es kurz zusammenzufassen: ein ß steht nur – aber nicht immer – nach langem Vokal oder Diphthong und wird immer stimmlos ausgesprochen. Dies ist für die Standardschreibweise zwingend. Leicht gesagt, aber in der Anwendung zunächst nicht ganz so einfach.
Sich mit der Ausrede aus der Affäre ziehen zu wollen, man habe nur eine ausländische Tastatur ohne ß, ist heutzutage keine Option. Denn die gängigen Textverarbeitungsprogramme haben eine Liste von Sonderzeichen. Außerdem kann man notfalls mit Hilfe einer Suchmaschine ein ß im Netz suchen und mit „kopieren -> einfügen“ in den eigenen Text integrieren. Lerner des Deutschen als Fremdsprache danken es uns. Wie löse ich aber beim Schreiben ein konkretes Rechtschreibproblem?
Tipps für das erfolgreiche Umschiffen von ß-Rechtschreibfallen
Angenommen, ich frage mich, ob ich „Fass“ oder „Faß“ schreiben muss. Als erstes sollte ich feststellen, ob die Schreibweise „Faß“ überhaupt infrage kommt, also ob es sich bei dem fraglichen Laut um einen stimmlosen s-Laut handelt. Wenn nicht, dann kommt ja ohnehin kein ß in Betracht. Ein s-Laut am Ende eines Wortes ist immer stimmlos, also ein eventueller ß-Kandidat. Da das ß nur nach langem Vokal oder Doppellaut stehen darf, sagt mir hier aber das kurz gesprochene einfache a, dass ein ß nicht möglich ist. Also brauche ich keine Verlängerungsprobe zu machen. Kurz und – zumindest für die nach 1990 Geborenen – schmerzlos.
Wenn andererseits die Frage ist, ob es „Spaß“, „Spas“ oder „Spass“ heißen muss, stellen wir fest: Wir haben es – wiederum bei stimmlosem s-Laut – mit einem langen Vokal zu tun. Hier wäre ein ß möglich. Nun muss man verlängern: „des Spaßes“ oder „Späße“. In diesen Erweiterungen bleibt der s-Laut stimmlos – also muss „Spaß“ mit ß geschrieben werden. Gleiches gilt für s-Laute in Wörtern wie „aß“ – „essen“ und nach Doppellauten („Fleiß“ – „des Fleißes“, im Gegensatz zu „reist“ – „reisen“).
Zu beachten sind Ausnahmen wie die bereits erwähnte Maß (oder Mass) Bier und Eigennamen, die nicht einfach den aktuellen Rechtschreibregeln angepasst werden (Zum Beispiel die Namen Plaß und Schloß Holte – trotz des kurzen Vokals mit ß geschrieben, oder Reiss, Theissen, Matthiessen & Co. (stimmloser s-Laut, aber trotz des vorangehenden Doppellauts bzw. langen Vokals meist kein ß)).
Tücke des Objekts: Akzent, Wahrnehmung und Rechtschreibung
Nun kann man aber mit solchen Empfehlungen nicht nur Schweizer und andere Nicht-Deutsche fürchterlich verwirren. Probleme tauchen auch auf, wenn regionale Akzente oder andere Sondervarianten der deutschen Aussprache die Anwendung dieser Regeln erschweren. Häufig gibt es gerade bei den s-Lauten Unterschiede zur Standardaussprache. Das kann so weit gehen, dass die Sprecher stimmhafte und stimmlose Konsonanten oder auch lange und kurze Vokale nicht voneinander unterscheiden können.
Häufig hört man etwa beim Wort „Soße“ je nach Akzent einen stimmlosen Anlaut oder auch einen stimmhaften s-Laut zwischen den beiden Vokalen – im Gegensatz zum Standardakzent des Hochdeutschen, wo ein s im Anlaut stimmhaft und das ß stimmlos auszusprechen ist. Sprechern mit solcher Artikulation ist ein Aussprachewörterbuch zu empfehlen, in dem ein stimmhafter s-Laut in der Lautschrift eindeutig als /z/ wiedergegeben ist. Diesen Laut schreibt man nie als ß.
Oder mancher echte Westfale ist felsenfest davon überzeugt, dass „Glas“ – ebenso wie „Spaß“ – kurz gesprochen wird, weil dies den Regeln des regionalen Akzents entspricht. In diesem Fall kann er einen langen Vokal nicht unmittelbar erkennen und muss vor allem bei solchen Wörtern verlängern. Ist der entsprechende Vokal im verlängerten Wort lang, so gilt dies auch für die Standardaussprache des Vokals in der Kurzversion. Allerdings darf die Verlängerung kein Diminutiv sein, denn „Gläschen“ und „Späßchen“ sprechen wir Westfalen ebenfalls kurz. Bei Nomina (Namenwörtern) ist hier die Pluralbildung die bessere Methode, denn „Gläser“ und „Späße“ werden selbst zwischen Weser und Rhein lang gesprochen.
Wer die Standardaussprache beherrscht – also „reisen“ und „reißen“ verschieden ausspricht – aber trotzdem Probleme hat, stimmhafte von stimmlosen Konsonanten (Mitlauten) zu unterscheiden, kann das s in „reisen“ und das s in „reißen“ mit einer einfachen Methode unterscheiden. Einfach eine Hand an den Kehlkopf legen und das fragliche Wort mit besonders lang angehaltenem s-Laut aussprechen! Die Stimme entsteht bekanntlich durch Vibrationen der Stimmbänder. Wenn beim Artikulieren des s-Lautes der Kehlkopf fühlbar vibriert, ist der Laut also stimmhaft und wird nicht mit ß geschrieben. Eine Verlängerungsprobe ist nicht nötig – oder höchstens, um festzustellen, ob das Wort mit s oder ss geschrieben wird.
Es gibt also für den Entscheidungsprozess allerlei nützliche Strategien. Auch wenn es zunächst nicht danach aussehen mag – nach mehrfacher Anwendung sollten sie jedem in Fleisch und Blut übergehen. Das ß ist in Deutschland nun einmal Vorschrift – aber mir persönlich würde auch etwas fehlen, wenn dieser originelle Schnörkel aus dem Schriftbild verschwände.
[1] Dies gilt nicht für die Maß, die keinen Plural hat und ausnahmsweise auch Mass geschrieben werden darf!
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Und tschüss! startete kürzlich einer meiner Blogs (Thema: spülrandfreie WCs).
Was willste machen? Es lässt sich durchaus Tschü-ü-üüüß … grüßen (dahamwerswieda), aber ein knackiger Druck auf die Spültaste verlangt eben “ss” – kurz und gut :-).
Vielen Dank, Frau Lohmann,
für diese originelle und hilfreiche Fleißarbeit. Ich selbst (Jahrgang 1954) benötige Ihre Tipps nicht und kann trotz der Geistesverwirrung der 1996er Rechtschreibreform und den vielen, nachfolgenden Verschlimmbessrungen das “ß” von “s” oder “ss” in den meisten Fällen sicher unterscheiden.
Ich bin generell dafür, Eigenarten einer Sprache hochzuhalten und habe auch kein Problem damit, sie beim Fremdsprachenlernen zu akzeptieren. Ich finde es etwas schade, dass es “buk” – heute “backte” – als Präteritum von backen nicht mehr gibt. Gleiches gilt für “frug” – heute “fragte” – als Vergangenheitsform von fragen. Ich erinnere mich noch an das Seminar für die alten und mittleren Sprachstufen des Deutschen, als man sieben verschiedene Arten von starken Verben unterschied. Also Verben, bei deren Konjugation sich der Wortstamm änderte.
Wie wichtig der kleine Unterschied ist, in diesem Fall der zwischen Groß- und Kleinschreibung, bleibt mir ewig in Erinnerung durch ein Beispiel meines Deutschlehrers auf dem Weg zum Abitur.
“Schweizer, die Deutschen Boden verkaufen”, sind Menschen aus der Schweiz, die Immobilien an Deutsche irgendwo auf der Welt verkaufen.
“Schweizer, die deutschen Boden verkaufen” sind Personen aus der Schweiz, die Grundstücke in Deutschland vermarkten- die Käuferschaft kann aus aller Herren Länder kommen.
Das einzige Erkennungsmerkmal zwischen diesen zwei fundamental unterschiedlichen Aussagen ist das kleine (d) und das große D.
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Peter Umlauf