Pippa und die Flunkersprossen

Und noch eine Kindergeschichte, diesmal von unserer Autorin talenta:

Der verräterische Sonnenstrahl

Pippa stand vor dem großen Spiegel im Bad und übte gerade „böse und furcht- einflössend gucken.“ „Gar nicht schlecht,“ befand sie, während sie im Spiegel kritisch beobachtete, wie ihre großen, grünen Augen sich zu Schlitzen verengten, während sich die Stupsnase ein wenig kräuselte und sie den Mund ganz fest zusammenkniff. Die Augenlider müssen noch weiter nach innen, ermahnte sie sich. Das würde Leo schon beeindrucken, da war sie sich sicher. Der Blödmann! Nur weil sie ein Mädchen war, meinte er, er könne sie auf dem Schulhof herumschubsen. Der würde sich wundern, wie böse sie gucken kann! Leo würde vor Angst hoffentlich tot umfallen! Und falls Ihr meint, böse gucken ist doch ganz einfach, könnt ihr es ja gerne selber mal probieren.

Plötzlich schob sich die Sonne durch das Badezimmerfenster und tauchte den Spiegel mit einem Mal in ein helles Licht. Erschrocken wich Pippa zurück! NEIN! DAS KONNTE NICHT SEIN! Es war gerade mal Frühlingsanfang, die Sonne hatte sich bis eben noch kein einziges mal in diesem Jahr gezeigt und dennoch… Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich ganz weit nach vorne an den Spiegel heran, um in der nächsten Sekunde entsetzt zurückzuweichen. Um ihre Nase zeigten sich viele kleine Punkte!

Erschreckend! Viele! Punkte!

Und auch auf der Stirn! Konnte es sein? Nein! Ihre Mama konnte unmöglich Recht haben! Mama meinte nämlich, dass Pippa keine Sommersprossen hatte, sondern Flunkersprossen, weil sie manchmal, na ja, es war jetzt nicht wirklich so, dass Pippa flunkerte, aber manchmal war es einfach besser, nicht die ganze Wahrheit zu sagen, oder? Gestern zum Beispiel, als ihre große Schwester wissen wollte, ob sie ihren Nintendo aus ihrem Zimmer genommen hatte, konnte Pippa das aus voller Überzeugung verneinen. Hatte sie nicht. Wirklich nicht. Er lag im Wohnzimmer und deshalb hatte Pippa ihn sich kurz ausgeliehen. Sie wusste, dass sie das eigentlich nicht durfte. Pippa durfte nie ohne zu Fragen an die Sachen ihrer Schwester. Aber geflunkert hatte sie nicht, oder? Alina hatte schließlich nicht gefragt, ob sie damit gespielt hat. Oder war das etwa doch schon flunkern? Mama meinte jedenfalls, jede kleine Flunkerei würde eine Sprosse erzeugen… Es half alles nichts. Pippa musste sicher sein, dass die Flunkerei in keinem Zusammenhang mit ihren Sommersprossen stand.

Sommersprossen sind und waren Sommersprossen und Flunkersprossen gab es schließlich nicht. Hoffte Pippa.

Sie beugte sich auf ihrem kleinen Höckerchen stehend leicht zur Seite und griff nach einem von Mamas roten Schminkstiften, mit denen Mama ihre Lippen immer so wunderschön rundherum anmalte, bevor sie den Lippenstift auf die Lippen machte. Ganz in Ruhe und hoch konzentriert kringelte sie nun eine Sprosse nach der anderen ein. So konnte sie sich nicht verzählen. Mama hatte ihr das bei den Buchstaben-Clustern im Deutschbuch gezeigt, damit sie keine Buchstaben vergaß. „Streich sie einfach weg, damit Du sie nicht aus Versehen doppelt benutzt,“ hatte sie gesagt. Eins, zwei, drei… oh je. Erst eine Wange und schon 15 Punkte gezählt! Die Kringel nahmen überhaupt kein Ende! Als sie fertig war betrachtete Pippa ihr rot bekringeltes Gesicht kritisch, ob sie auch keine Sprosse vergessen hatte. Augen nach rechts, Augen nach links. Kinn hoch, Kinn runter. Nein, sie hatte keinen Punkt vergessen.

Mist!

46 Flun.., äh, Sommersprossen hatte sie gezählt. Und der Frühling hatte nicht einmal begonnen.

„Pippa?“ Das war ihre Mama. Frühstück stand auf dem Tisch. Sie hatte getrödelt. Vor lauter Böse gucken und Sprossen zählen, hatte Pippa völlig die Zeit vergessen und sich noch überhaupt nicht für die Schule fertig gemacht. Schnell zog sie ein altes T-Shirt aus der Wäschetruhe über den Kopf, sprang in die nächst-beste Jeans und rannte in die Küche. Mit einem entsetzen Aufschrei wurde sie von ihrer Mutter empfangen. Fast hätte ihre Mutter die Teetasse fallen gelassen, die sie gerade auf Pippas Platz stellen wollte. Mit einem energisch „Ponk“ stellte Mama die Tasse ab: „Filippa! Bist Du krank, mein Schatz? Oh je, Marc, komm mal schnell, Pippa hat die Röteln! Oder die Masern! Maaarc! Wir haben die Kinder doch impfen lassen! Ohje. Hast Du Fieber, Schätzchen?“ Ihre Mutter war völlig aus dem Häuschen. „Ja, ich glaube schon, ich fühle mich krank, kann also sein,“ Pippa wich vor ihrer Mutter zurück und flitzte schnell zurück ins Bad, ehe ihre Mutter sie zu fassen bekam.

Pippa starrte auf ihr Kringelgesicht. Tatsächlich: Sie hatte geflunkert. Schon wieder! Und da, auf der Nasenspitze, nicht eingekringelt, genau zwischen zwei eingekreisten Punkten, poppte ein kleiner, neuer brauner Punkt auf, der gerade noch nicht da gewesen war. „47,“ dachte Pippa, während sie schnell mit Wasser und Seife ihr Gesicht schrubbte, als Papa und Mama schon ins Bad gestürzt kamen.

„Pippa?“ ihre Eltern starrten ihrer Tochter ins Gesicht. Die Besorgnis wandelte sich zusehends in einen Blick, den Pippa den typischen „Eltern-Blick“ nannte. Weg waren die Röteln oder Masern. Pippa zuckte mit den Schultern und versuchte ein schiefes Grinsen.

(Merke: Auch freundlich gucken muss man vor dem Spiegel üben!)

„War nur ein Trick, um Euch zu erschrecken“ sagte Pippa und dachte an die 48. Sprosse, so als könnte sie förmlich spüren, wie sie sich in diesem Moment auf ihrer Haut breit machte. Plopp! Wie ein dicker Mückenstich brannte die 48. Sprosse auf ihrer Nase und während sie (hoffentlich) verlegen reinguckte, konnte sie die Flunkersprosse auf der Nase leuchten sehen! Allerdings musste sie recht überzeugend verlegen drein geschaut haben, denn ihr  Papa musste lachen und sie schreckte aus ihren Gedanken hoch: „Also wirklich, Pippa! Das ist nicht lustig. Wir haben heute einen anstrengenden Tag vor uns, Mama muss ihre Kunstausstellung vorbereiten und ich habe einen wichtigen Termin!“ Dabei nickte Papa energisch mit dem Kopf und zog an seinem „Atomkraft Nein Danke!“ – T-Shirt. Top modern, wie Alina immer sagte. Pippa vermutete, dass ihre große Schwester das nicht ernst meinte. Sie erinnerte sich daran, dass es ganz gut kam, mit den Schultern zu zucken und möglichst unglücklich zu gucken. Das musste sie nicht vor dem Spiegel üben. Das konnte sie. Papa und seine peinlichen Termine und Mama und ihre blauen Hasen! Gott sei dank waren alle in Eile und Mama schüttelte nur den Kopf. Wahrscheinlich war Mama froh, dass Pippa ihr jetzt bei der Ausstellung nicht auch noch mit Kranksein in die Quere kam. Deshalb setzten sie sich alle an den Frühstückstisch. Papa guckte in die Zeitung und Mama hatte ihren Laptop aufgeklappt. Alina war schon weg. Als Teenager war frühstücken völlig uncool! Und während Pippa ihr Müsli löffelte, flog ihre Gedankenmaschine schon wieder an.

Wann war das eigentlich mit den Flunkersprossen das erste Mal passiert? Sie musste unbedingt noch einmal ältere Fotos von sich durchgucken, als sie noch klein war, drei oder vier oder fünf. Jetzt war sie ja schließlich schon sechs Jahre alt und ein Schulkind. Letztes Jahr im Urlaub hatten sie gemeinsam die Sommersprossen auf ihrer Nase gezählt. Es waren 23. Und alle Sprossen verteilten sich hübsch um Pippas Stupsnase herum. Sie konnte sich so genau daran erinnern, weil außer ihr in der Familie kein Mensch und auch keiner von Mamas blauen Skulpturenhasen Sommersprossen besaß. Mama hatte ziemlich viel Fantasie, vielleicht sogar noch mehr Fantasie als Pippa und sie konnte ganz tolle Geschichten erzählen, aber man wusste nicht immer, ob sie denn wahr waren oder nicht. Mama sagte zum Beispiel, dass sie nur dann zaubern könnte, wenn die Sonne scheint, dabei hatte Mama auch schon bei Regen mit einem kleinen Hokus-Pokus Spruch ihr eine Süßigkeit in die Tasche gezaubert oder auch schon mal ein Buch auf den Schreibtisch, das vorher ganz sicher noch nicht da gelegen hatte… Aber warum noch mal hatten sie im letzten Urlaub die Sommersprossen noch mal gezählt und behauptet, es wären Flunkersprossen?

Huch, schon war die Müslischale leer. So war das andauernd. Gerade war man mit einem ganz, ganz wichtigen Gedanken beschäftigt, dann musste man schon wieder etwas anderes tun. Sie räumte ihr Geschirr weg und zog ihre Jacke an. Papa war „so nett,“ sie in die Schule zu fahren. Oh Gott war das peinlich!

Ihre Mama war Künstlerin und hatte ein kleines, eigenes Atelier. Sie verkaufte immer blaue Hasen, aber davon ganz viele. Die blauen Hasen waren Mamas stiller Protest gegen den Einsatz ihres Mannes als Umweltökonom, wenn Filippa Mama richtig verstanden hatte. Papa war viel unterwegs und ging in Firmen und sagte den Menschen, was sie alles falsch machen und wie dadurch die Umwelt kaputt ging. Aber das machte er nicht nur in Firmen, sondern auch zu Hause. Und das war manchmal schon sehr anstrengend. Wenn er Zeit hatte, erfand Papa immer neue Sachen, die der Umwelt gut tun sollten. Deshalb hatte er auch einen vierrädrigen Rasenmäher mit Solarstromzellen umgebaut, den er jetzt als Auto benutzte. Und mit diesem fuhr Papa sie jetzt zur Schule. Sie sah Leo förmlich schon vor der Schule, mit ausgestrecktem Finger auf sie zeigend, lachen.

Manchmal war das schon nervig für Filippa mit einer Mama und ihren blauen Hasen und einem Papa und seinen Erfindungen unter einem Dach zu wohnen und dazu noch eine große ziemlich schlaue Schwester zu haben. Dann zum Beispiel, wenn ihre Freunde ihr erzählten, ihr Papa arbeitete als Filialleiter im Supermarkt. Ein Papa war auch Arzt, ein anderer Professor oder Kameramann. Ihr Papa arbeitete für eine gesunde Welt und gegen böse Firmen. Das glaubte ihr aber keiner, wenn Papa sie dann auf einem umgebauten Rasenmäher in die Schule brachte, der mit Sonnenenergie lief. Dann sagten ihre Freunde: „Pippa, Dein Papa ist kein Umweltökolom, sondern der spinnt! „Er ist ja auch kein Umweltökolom, sondern Ökonom,“  entgegnete Pippa dann mit einem gezwungenen Lächeln, auch wenn sie nicht so genau wusste, was der Unterschied zwischen einem Ökolom und einem Ökonom war.

Heute war ihr die Lästerei ausnahmsweise egal. Konnte es tatsächlich so etwas wie Flunkersprossen geben? Konnten sich unter ihre Sommersprossen Flunkersprossen gemogelt haben? Oder noch viel schlimmer: unter ihre Flunkersprossen Sommersprossen mogeln? Und wenn es so sein sollte, was konnte sie dagegen tun?

Während der ersten Stunde, Kunst, hatte Pippa Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Sollte sie ihrer Mama glauben, dass es wirklich Flunkersprossen gab? Pinocchio war eine Geschichte. Das wusste sie. Alleine schon deshalb, weil Mama ihr das Buch vorgelesen hatte und es ihn auch im Fernsehen gab. Also gab es den ja nicht wirklich. Als ihre Mama sie mal beim Flunkern ertappt hatte und ihr von der wachsenden Nase erzählt hatte, war Pippa nicht so dumm, auf so eine Geschichte hereinzufallen. Nur um ganz sicher zu sein, hatte sie trotzdem jeden Tag im Spiegel nachgeschaut, ob ihre Nase wächst, aber sie hatte sich kein bisschen verändert. Selbst als sie gesagt hatte, dass sie Adrian nicht vors Schienbein getreten hätte, was eine dicke Lüge war, wuchs die Nase nicht. Kein bisschen. Es gab noch ein paar Gelegenheiten, zu denen Pippa die Wahrheit ein bisschen ausgedehnt hatte. Aber auch danach war die Nase kein bisschen gewachsen. Sie war immer noch so klein und stupsig wie immer. Aber vor lauter auf das Nase-Wachsen konzentrieren, hatte Filippa natürlich nicht darauf geachtet, ob sie dadurch mehr Sommersprossen bekommen hatte. Im Winter! Wer sollte da schon an so etwas denken? Mama hatte gesagt, dass Pippa eine empfindliche Haut hat, die im Sommer Sommersprossen bildet, aber eben nicht im Winter und dass sie sich das nicht anders erklären konnte, als dass Pippa vor lauter Flunkerei eben ganz viele Flunkersprossen bekommt. Und jetzt war es offensichtlich passiert.

Die Glocke läutete und riss Pippa (schon wieder) aus ihren Gedanken. Ihre Freundin Paula guckte auf ihr Kunstwerk: „Was soll das denn sein? Malst Du ein Zoobild?“ „Schön gemacht,“ lobte Frau Gibbel, ihre Lehrerin: „Ein Frühlingstag im Zoo. Eine tolle Idee, Filippa!“ „Ihr könnt in der nächsten Stunde noch an Eurem Frühlingsbild weitermalen,“ sagte sie zur Klasse und Pippa sank schuldbewusst auf ihrem Stuhl zurück. Ganz unbewusst hatte Pippa nämlich eine Erinnerung gemalt. Nachdem sie Pippi Langstrumpf gelesen hatte, und das war Pippas Vorbild, hatte sie nämlich überlegt, ob sie wohl auch, wie Pippi, ein Pferd hochheben kann. Sie fand Pippi nicht nur ungemein cool, weil sie ganz alleine mit einem Affen, einem Pferd und einem Papagei ohne Eltern in einem Haus leben durfte, sondern Pippi Langstrumpf war vor allem extrem stark. Und deshalb hatte Pippi ja auch vor nichts Angst. Und wie sie da vor ihren Freunden im Garten stand und ihr Pferd, kleiner Onkel, hochhob. Das wollte Pippa auch können!

Als sie letzten Sommer im Tierpark waren, ging Pippa deshalb schnurstracks auf den Streichelzoo zu und probierte aus, wie stark sie war, indem sie eine Ziege hoch hob. Okay. Es war ein Zicklein und die Mutterziege fand das nicht so witzig und hatte sie erst angeblökt und sie dann einfach umgerempelt. Der Tierpfleger war auch nicht so begeistert gewesen, weil man Ziegen nicht einfach hochheben darf. Aber woher sollte sie das denn wissen? Und selbst wenn es irgendwo auf einem Schild gestanden hätte – so toll konnte sie letztes Jahr noch nicht lesen. Außerdem hatte der Tierpfleger auch gesagt, er könnte ja jetzt nicht extra für sie ein Schild aufstellen, dass man hier keine Ziegen stemmen darf. So ganz hatte Filippa nicht verstanden, was er damit gemeint hatte. Auf jeden Fall war sie fluchtartig aus dem Gehege gerannt und hatte Oma und Mama erzählt, dass sie eine Ziege hochheben konnte. Und da, da war es, dass Mama das erste Mal mit den Flunkersprossen anfing. Sie hatte ganz kritisch ihre Nase beobachtet und ihr dann in die Augen geschaut: „Pippa? Du hast also eine Ziege hochgehoben? Ganz alleine?“ Pippa hatte tapfer genickt und ohne zu blinzeln den Blick ihrer Mama erwidert. „Bist Du sicher, dass das nicht geflunkert ist?“ Pippa nickte einfach weiter. Und dann hatte ihre Mama den kritischen Blick von ihren Augen weg auf Pippas Nase gelenkt und einfach: „Da. Schon wieder eine“ gesagt und das Thema dann einfach fallen lassen. Irgendwann später erst hatte sie den Faden wieder aufgenommen, als sie meinte, Pippa bräuchte keine Sonnencreme. Schließlich wäre gegen Flunkersprossen noch keine Schutzcreme entwickelt worden. An dem Tag hatte sie dann aber die Sprossen gezählt und es waren die 23. Ihre Mama hatte sonst nichts dazu gesagt. Aber die Geschichte mit der Ziege wollte sie ihr einfach nicht glauben. Im nach hinein fragte Pippa sich, ob es nicht auch gereicht hätte, ihrer Mutter zu berichten, dass sie ein Zicklein hochgehoben hatte. Das wog doch auch schon was und sagte doch auch etwas darüber aus, wie stark und mutig sie war. Doppelt MIST.

Pippa seufzte und nahm einen dicken schwarzen Stift und malte der Ziege auf ihrem Blatt Papier runde, schwarze Punkte ins Fell. Sie nannte das Tier „Kleines Fellteil“. Darunter malte sie ein Mädchen, das die Ziege hochhob. Sie hatte viele Sommersprossen im Gesicht, und nur um eine Verwechslung zu vermeiden, malte sie dem Mädchen rote Zöpfe. Sollten doch alle denken, dass nur Pippi Langstrumpf stark war. Pippi war vielleicht das stärkste Mädchen der Welt aus einer Geschichte. Pippa war tatsächlich stark. Im wirklichen Leben.

Wie geht erben? Pippa überlegte. Vielleicht gab es ja doch noch eine ganz normale Erklärung für ihre Sprossen. Im Geiste rief sie sich alle Familienmitglieder ins Gedächtnis. Alina, ihre Schwester, hatte grüne Augen wie ihr Papa, immer eine braune Haut und ziemlich tolle Haare. Sie war viel länger als Filippa und sah ganz anders aus. Sie hatte aber keine Sommersprossen. Pippa sah aus wie ihre Mama in klein. Ihre Mama war sehr hübsch, aber sie hatte auch keine Sommersprossen. Ihre Oma hatte weiße Haare und abwechselnd entweder eine grüne oder eine rote Brille an. Aber sie hatte auch keine Sommersprossen. Und ihr Papa hatte zwar eine große Nase, aber auch keine Sommersprossen drauf. Also, wenn es ganz normale Sommersprossen wären, was Pippa inständig hoffte, wo hatte sie die Sommersprossen her? Vielleicht konnte man Sommersprossen ja erben, wenn jemand stirbt und vor kurzem war ihr Opa gestorben. Vielleicht hatte sie die Sommersprossen ja einfach vererbt bekommen? Deshalb waren es jetzt auch viel mehr. Genau! Ganz einfach. Ihre 23 und Opas Sommersprossen. So musste es sein.

Sie konnte es überhaupt nicht abwarten, bis Mama sie aus der Schule abholen kam. Unglücklicher Weise hatte Mama drei neue blaue Hasen dabei, die sie erst noch in dem kleinen Skulpturengarten neben Omas Haus aufstellen musste. Mama war ganz in ihre Arbeit vertieft, die Hasen zueinander zu sortieren, so dass sie gar nicht hörte, als Pippa sie fragte: „Mama, was heißt eigentlich erben?“ Gerade nahm sie den größeren Hasen wieder von einem kleinen Podest herunter, das sie mitgebrachte hatten und fluchte über eine Spiegelkonstruktion, die mitten im Skulpturengarten stand und kaum Platz für ihre blauen Hasen ließ. „Das soll Kunst sein? Das blendet doch nur die Nachbarn, wenn die Sonne drauf scheint,“ schimpfte ihre Mutter. Mit einem beherzten Ruck entfernte ihre Mama die Spiegelkonstruktion. Das Kunstwerk zog mit einem verächtlichen Grunzen unter einen ziemlich wild wachsenden Rosenbusch. „Das kauft sowieso niemand,“ kommentierte Mama ihre Aktion zufrieden und stellte stattdessen ihre drei Hasen nebeneinander auf die freie Rasenfläche. Dann fiel ihr ein, dass ihre Tochter ihr eine Frage gestellt hatte und sie setzten sich mitten auf die Wiese zu ihren Skulpturen. „Was wolltest Du wissen, Pippa?“ „Ich wollte wissen, wie man erbt,“ wiederholte Filippa geduldig ihre Frage. „Fragst Du wegen Opa?“, fragte ihre Mama verwirrt. „Oma lebt doch noch. Da gibt es nichts zu erben! Wenn jemand stirbt, dann kann er ja nichts mitnehmen, wenn seine Seele in den Himmel geht. Und dann bekommen seine Angehörigen die Dinge, die ihm gehört haben. Und das Haus hat Oma und Opa gehört und jetzt gehört es Oma und das alte Auto auch.“  „Ich geh mal kurz zur Oma,“ sagte Mama, stand auf und ging ins Haus.

Also, Mama hatte eigentlich von Dingen gesprochen, aber wenn Opa Sommersprossen gehabt hätte, dann hätte sie jetzt wohl Oma geerbt, wenn Pippa ihre Mama richtig verstanden hatte. Das Auto und das Haus gehörten ihr ja jetzt auch. Verdrießlich starrte Pippa die drei blauen Hasen an, die sie mit hoch gereckten Ohren anstarrten. „Ach Opa,“ murmelte Pippa. „Ich habe doch noch so viele Fragen an Dich. Warum bist du nicht mehr da? Oma konnte doch auch in dem Haus leben, als du noch da warst. Das macht doch gar keinen Sinn. Du hättest es ihr doch auch einfach schenken können, ohne zu sterben“. Pippa wusste, dass Selbstgespräche komisch wirkten, aber außer ihr war ja keiner im Garten. Also sprach sie weiter: „Und ich habe dich nie angeflunkert. Ich verspreche Dir hoch und heilig, dass ich nie wieder flunkere, wenn Du mir jetzt hilfst und sagst, dass alles gut wird und ich diese blöden Flunkersprossen wieder loswerden kann, wenn ich ab jetzt sofort damit aufhöre und nie wieder die Wahrheit verbiege oder flunkere. Ich verspreche es. HOCH UND HEILGI!“

Gebannt guckte Pippa zum Himmel, ob sich etwas tat. Aber alles war so wie vorher. Sie wusste aber von anderen Gelegenheiten, dass es durchaus hilfreich war, mit Opa zu sprechen, auch wenn er im Himmel war. Oma hatte ihr erzählt, dass er durchaus immer noch gerne zuhört und ihr manchmal auch antworten würde. Sie beugte sich leicht vor, so als könne der Wind ihrem Gespräch mehr Ausdruck verleihen. „Außerdem könntest du mir helfen, mit Leo zu recht zu kommen. Ich habe nämlich wirklich Angst vor ihm, weil er immer so gemein ist,“ setzte sie flüsternd hinzu. Und fast kaum hörbar: „aber sag’s keinem, okay?“ Der Wind strich durch die Bäume und ein paar kleine Wolken zogen am Himmel entlang. Pippa fröstelte. Es war einfach noch zu kalt, um im Garten rumzulungern, um mit Opa zu sprechen. Gerade als sie gehen wollte, bemerkte sie aber eine klitzekleine Veränderung an einem der Hasen. Pippa wollte ihren Augen nicht trauen und rieb sie vorsichtshalber die Augen, ehe sie noch einmal näher den mittleren, blauen Hasen betrachtete. „Konnte das sein?“ Vielleicht war es ein bisschen Vogel-Kacke? Aber genau in der Größe einer Sommersprosse, genauso braun und rund wie auf ihrer Nasenspitze? Konnte das wirklich Zufall sein? Da, oberhalb der Hasennase hatte sich ein kleiner Punkt gebildet. Der Hase hatte eine Sommersprosse und die war eben noch nicht da! Und Mama hatte noch nie einen Hasen mit Sprosse angefertigt. Das war ein Zeichen! Von Opa! Aufgeregt sprang Pippa auf. Ein Zeichen! Endlich! „Danke Opa,“ rief sie und gab dem Hasen einen Kuss auf die Sprossennase. Jetzt musste sie dazu nur noch einen Plan ausarbeiten. Sie hatte Opa etwas versprochen und Opa hatte ihr eine Möglichkeit gezeigt, wie man die Flunkersprossen wieder loswerden konnte. Und Pippa hatte Zeit bis zum Sommer, die Sprossen loszuwerden. Und nicht nur das. Opa würde sie auch unterstützen, ihre Angst vor Leo loszuwerden. Vielleicht sollte sie ihrer Mama von ihren Ängsten erzählen? Ja, das war sicherlich ein guter Anfang.

© talenta/Sandra Milden

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